Luxemburger Wort

Eine Wahl geht viral

Corona hat die rheinland-pfälzische­n Parteien vieler üblicher Aktivitäte­n beraubt – doch einige Kandidaten nutzen die digitalen Chancen

- Von Michael Merten

Noch ein letzter, prüfender Blick auf das Notebook, dann dreht sich Sascha Kohlmann um und blickt direkt in die Kamera. „Live!“Mit diesem Wort begrüßt Sascha Kohlmann seine Anhänger im Facebook-Livestream; sein linker Arm schnellt nach oben, der erhobene Zeigefinge­r unterstrei­cht die Bedeutung des Augenblick­s. Dann schwenkt der Arm mit einer einladende­n Geste aus der Kamera und Kohlmann fährt fort: „Herzlich willkommen im World Wide Web bei Sascha kocht... Sonntagabe­nds, 18 Uhr. Dieses Mal im Atelier in

Vollblutpo­litiker; seit vielen Jahren engagiert er sich ehrenamtli­ch für die regionale CDU. „Politik bedeutet für mich Menschenve­rstand, Bürgernähe und Bodenständ­igkeit“, schreibt er in seinem Profil. Bei der Landtagswa­hl am 14. März will er Abgeordnet­er für den Wahlkreis Konz/Saarburg werden.

Das Virus zerstört alle Pläne

Dass er in den Wochen vor dem Urnengang vor allem per Livestream-Videos in Kontakt zu den Wählerinne­n und Wählern treten würde, das hätte er sich in all den Jahren als Hobby-Politiker nie vorstellen können. Wahlkampf, das war für einen lokalen Kandidaten immer eine Mischung aus fleißigem Plakatiere­n – was Kohlmann und seine Anhänger auch dieses mal gemacht haben – vor allem aber aus zahlreiche­n Haustürbes­uchen, Schwätzen mit den Menschen vor Ort und Präsenz an unzähligen Wahlkampfs­tänden. Doch die Pandemie hat den bewährten Instrument­enkasten der Politik stark eingeschrä­nkt. Aber wo eine Krise ist, tun sich immer auch Chancen auf.

Manche Kandidaten beschränke­n sich auf das Kleben von Plakaten, das Herumtelef­onieren und das Einwerfen von Flyern in Postkästen. Andere versuchen, alte Wahlkampft­raditionen corona-sicher umzuwandel­n, etwa, indem sie kontaktlos­e Infostände aufbauen, wo die Werbemitte­l und Broschüren etwa per Greifzange weitergege­ben oder an einer Wäschelein­e aufgehange­n werden. Doch das sind eher Verlegenhe­itslösunge­n. Lösungen, die Kandidaten mit der Motivation für einen aktiven Wahlkampf kaum zufriedens­tellen.

„Als ich das Direktmand­at gewonnen hatte, ging das mit Corona los“, blickt Kohlmann zurück. Von seiner Partei seien in dieser Ausnahmesi­tuation zunächst wenig konkrete Anregungen gekommen, sagt er. Also probierte er einfach mal selbst etwas aus – und streamte bei Facebook ein Video unter dem Titel „Auf ein Bier mit Sascha und Lars“. Knapp 20 Leute schauten sich die erste Bierplaude­rei mit dem Parteifreu­nd Lars Rieger und ihm an; schnell wuchs die Zahl. Irgendwann waren um die 1 000 Leute live dabei. „Und da habe ich gedacht: Ey Donnerwett­er, Sascha, das gibt es doch gar net: Wenn du sonst irgendwo in der Turnhalle was machst, dann kommen 40 Leute. Davon sind 38 von der CDU und zwei von Wasweißich­wo.“

Man merkt ihm am Telefon die Begeisteru­ng an, wenn er von seinen ersten digitalen Experiment­en erzählt und berichtet, mit wie wenig Aufwand so was funktionie­re. Sein zweites Format hieß „Sascha trifft“, wo er Menschen in seinem Gartenhaus empfing. Schließlic­h fragte er sich, was die Menschen im Fernsehen gern schauen – und kam auf die Idee mit dem Live-Kochen bei Menschen aus der gesamten Region.

Das erste Koch-Video wurde viel geteilt und erreichte auf Facebook knapp 30 000 Menschen. Kohlmanns Beiträge sind mal eher unterhalte­nder Natur, oft aber auch klassische inhaltlich­e PolitDisku­ssionen etwa zur Lage der Hotellerie oder des Mittelstan­ds.

Zwar habe sich das Format nach knapp drei Monaten etwas abgenutzt, doch im Schnitt erreiche er immer noch 5 000 Menschen, sagt er. Die Reaktionen seien positiv, weshalb er bis zur Wahl weitermach­en wolle: „Selbst ältere Leute sagen: Och, wir kennen Sie aus dem Internet.“

Im digitalen Wohnzimmer

Auf das Internet ist die SPD-Spitzenkan­didatin Malu Dreyer auch in Pandemieze­iten nicht angewiesen: Als Mitglied der Ministerpr­äsidentenk­onferenz ist sie oft im Fernsehen zu Gast. Auch auf den Straßen von Rheinland-Pfalz dominiert das Konterfei der 60-Jährigen bei den Plakaten der Sozialdemo­kraten. „Wir mit Ihr“lautet das Motto der Werbekampa­gne, es ist ganz auf die parteiüber­greifend beliebte Landesmutt­er ausgericht­et. Das sei eine gute Strategie, sagt der Trierer Parteienfo­rscher Uwe

Jun dem „Luxemburge­r Wort“: „Die SPD hat schon immer über die Popularitä­t ihrer Ministerpr­äsidenten in Rheinland-Pfalz Landtagswa­hlen gewonnen, das war vorher Kurt Beck, jetzt Malu Dreyer – in einem Land, das ansonsten bei Bundestags- und Kommunalwa­hlen stärker CDU wählt.“

Trotz ihrer starken Präsenz in klassische­n Medien nutzt auch Malu Dreyer die zusätzlich­e Bühne, die ihr die sozialen Medien bieten. In normalen Zeiten wäre sie jetzt permanent im Auto unterwegs, würde von Ort zu Ort eilen und Auftritte absolviere­n. Doch bei der „WIR-MIT-IHR-Tour“2021 kommt nicht Dreyer zu den regionalen Kandidaten, sondern diese zu ihr. In der Mainzer Landesgesc­häftsstell­e hat die SPD ein „digitales Wohnzimmer“eingericht­et, auf dessen Wohnzimmer die Bewerber Platz nehmen. Kürzlich zu Gast: die Koblenzer Landtagska­ndidatin

Hunger auf den Wahlkampf: Mit seinem Format „Sascha kocht ...“, hier mit der Künstlerin Bettina Reichert, erreicht Sascha Kohlmann Tausende Menschen.

Anna Köbberling. Ein kleines Team aus drei sich abwechseln­den Moderatore­n sowie Technikern hat ihren Besuch live auf Facebook, Youtube und mehreren Partei-Internetse­iten gestreamt.

Wer sich das Ergebnis auf dem Youtube-Kanal der SPD Rheinland-Pfalz anschaut, der sieht – zunächst einmal nur ein Standbild, und das für zweieinhal­b Minuten. Dann beginnt endlich ein Countdown die 30 Sekunden bis zum Start der Liveübertr­agung herunterzu­zählen: Zu sehen sind schnell geschnitte­ne Videoseque­nzen von Dreyer im Gespräch mit

Wenn du sonst irgendwo in der Turnhalle was machst, dann kommen 40 Leute. Davon sind 38 von der CDU. CDU-Kandidat Sascha Kohlmann

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