Wenn es Luxemburg nicht mehr gibt
Doku-Fiktion über die Auswirkungen eines Atomunfalls auf ein kleines Land und seine Bewohner
Was wäre wenn? Es ist die Frage, die niemand in Luxemburg stellt. Lieber den Kopf in den Sand stecken und warten bis es dann passiert: Ein Unfall in der Atomzentrale Cattenom mit gravierenden Auswirkungen auf ein Land, das dadurch von der Landkarte gestrichen wird. Radioaktiv verseucht und deshalb für viele tausend Jahre unbewohnbar. Was dann?
Die Doku-Fiktion „An Zéro – Comment le Luxembourg a disparu“von Regisseur Julien Becker und seiner jungen Filmproduktionsgesellschaft Skill Lab hat sich an dieses Thema herangewagt und stellt wohl auch die richtigen Fragen: Welche Maßnahmen sind bei einem Atomunfall geplant? Welche nicht? Was wird aus dem Wohngebiet? Wohin werden die Flüchtlinge gehen? Wo werden sie aufgenommen? Welche Unterstützung wird man von den Nachbarländern erwarten können? Wie reagieren die lokalen Behörden?
Am Sonntag hat die Doku-Fiktion ihre Premiere beim Luxemburger Filmfestival. Es ist eigentlich eine Avant-Premiere, denn gedreht wurde dieser Film für den deutschen-französischen Kultursender Arte, auf dem er Ende April auch ausgestrahlt wird. Der Norddeutsche Rundfunk (NDR) als KoProduzent hat ihn dort in der Programmkommission eingebracht und das mit Erfolg.
Die ursprüngliche Idee zu dieser Doku-Fiktion hatte Nima Azarmgin, der sie den Produzenten von Skill Lab präsentiert hat. „Uns gefiel die Idee, wir haben sie aber zu einem Transmedia-Projekt
ausgebaut und Thomas Tomschak und seine Firma Bunker Palace mit an Bord genommen“, erklärt der Produzent und Regisseur Julien Becker. „So wurde eine App entwickelt, über die der Zuschauer die Katastrophe in der Atomzentrale auch über die gesamte Zeit virtuell miterleben kann.“
Panik und Flucht
Der Film ist hauptsächlich in der luxemburgischen Sprache, aber, wie es in Luxemburg normal ist, kommen auch alle anderen Sprachen des Landes vor. Auf Arte Deutschland wird die Fassung ganz auf Deutsch sein, auf Arte France ganz auf Französisch. Eine luxemburgische Fassung mit Untertiteln war Arte zur Erstausstrahlung im Fernsehen dann doch etwas zu viel. Es gibt sie aber, wenn man bei den Einstellungen die Originalfassung auswählt. Sie richtet sich wohlgemerkt vor allem an das Luxemburger Fernsehpublikum.
Skill Lab durfte in Cattenom nicht drehen, und das versteht sich natürlich von selbst. „Wir zeigen dennoch die Atomzentrale, setzen auch Spezialeffekte ein, um so den Unfall darzustellen, aber wir halten diesen Aspekt bewusst kleiner
– wir haben uns eher auf die Reaktionen der Bewohner fokussiert, ihre Panik, das Zusammenbrechen der Infrastrukturen und die Staus auf den Autobahnen, über die vielen fliehen wollen“, so Julien Becker.
Das Budget, das dank Mithilfe des Norddeutschen Rundfunks und der Filmförderung zusammengekommen ist, reichte natürlich nicht aus, um einen Katastrophenfilm, wie ihn Hollywood produziert, auf die Beine zu stellen. „Unser Film ist dafür aber vielleicht etwas näher bei den Menschen und bei dem, was sie in dieser Katastrophensituation denken“, betont Julien Becker.
Skill Lab hat sein Projekt so aufgebaut, dass der fiktionale Teil des Films die Emotionen trägt, die nicht unbedingt in dem faktischen, dokumentarischen Teil zum Ausdruck kommen. Das Publikum könne sich in den konkreten Fall hineinprojizieren, davon ist der Filmregisseur überzeugt: „Wir haben uns die Latte schon sehr hoch gelegt, bei uns wirkt die erzählte Geschichte nicht, wie es in manchen Doku-Fiktionen der Fall ist, theatralisch. Wir haben daraus schon einen richtigen Spielfilm gemacht.“Dabei soll die Fiktion die Interviews nicht nur illustrieren, sie soll auch Spannung erzeugen und zugleich zum Nachdenken anregen. Der fiktionale Teil, in denen sich acht Doku-Blöcke einschieben, hat eine Dauer einer Serienepisode, 50 Minuten, und der Film hat eine Gesamtdauer von 80 Minuten.
An Schauspielern sind unter anderem Luc Schiltz, Fabienne Hollwege, Sophie Mousel und Joël Delsaut
dabei. Der Film beginnt mit den ersten Nachrichten, die von einem „incident technique“berichten. Daran ist man gewohnt und beachtet sie nicht wirklich. Dann entsteht ein Leak. Jemand teilt ein Video, das über die sozialen Netzwerke verbreitet wird; und am Ende muss sich der Premierminister dazu entscheiden, das verstrahlte Land zu evakuieren.
Es folgt ein Zeitsprung von drei Jahren: Luxemburger leben in Flüchtlingscamps in den Nachbarländern und führen eine ganz andere Existenz als ehemals im reichen Großherzogtum. Im Dokumentarteil werden Experten aus Politik und sowie mit den Fachgebieten Rettungswesen, Geschichte, Atomenergie, Radiologie, Gesundheit, Psychologie und Jura befragt.
Diskussionen verlaufen im Sand
Julien Becker und sein Team wollen mit ihrer Produktion die Menschen aufrütteln und eine Diskussion entfachen. Der Betreiber von Cattenom möchte derzeit die Nutzungsdauer der Atomkraftwerke auf 40 und 50 Jahre verlängern. „Ist das sinnvoll und verantwortungsbewusst?“, fragt Julien Becker, der meint, dazu müsse doch eigentlich ein Volk befragt werden.
„Ich wohne in der Nähe von Cattenom, ich denke zwar nicht jeden Tag daran, aber man wird dauernd an die Gefahr erinnert, und es wäre gut, darüber zu reden.“Premierminister Xavier Bettel hat übrigens schon vor einigen Jahren vorgeschlagen, die Schließung Cattenoms als Luxemburger Staat mitzufinanzieren. Dies ist aber längst wieder im Sand verlaufen.
Die Produktion hatte ein Budget in Höhe von 1,4 Millionen Euro. Darin ist die Entwicklung der App enthalten, allerdings nicht der zusätzliche Aufwand für die CovidSchutzmaßnahmen beim Dreh, wobei aber der Film Fund Luxembourg hierfür nochmals geholfen hat.
„An Zéro – Comment le Luxembourg a disparu“war übrigens der erste Dreh in Luxemburg nach dem Lockdown im Frühjahr des vergangenen Jahres, gewissermaßen ein Test-Dreh für diese neue Situation. „Wir haben es geschafft ohne Erkrankungen, zwei Wochen dauerte der Dreh.“
Unser Film ist nahe bei den Menschen und was sie in dieser besonderen Situation denken. Julien Becker, Filmregisseur
Wir wollen mit unserem Film die Menschen schon aufrütteln, wir wollen eine Diskussion.
Skill Lab wurde vor zehn Jahren gegründet, arbeitet viel im Bereich Werbespots und Unternehmensfilme, hat auch Kurzfilme produziert: „22 heures 22“von Julien Becker wurde mit dem Filmpräis 2014 ausgezeichnet. Danach folgte „Article 19-42“, auch von Julien Becker, sowie zuletzt „Lupus“von Laurent Prim. Im Sommer wird Skill Lab einen weiteren Kurzfilm produzieren.
„An Zéro – Comment le Luxembourg a disparu“von Julien Becker am Sonntag um 19 Uhr im Kinepolis und ab Montag 10 Uhr auf der Online-Plattform des Festivals.