Luxemburger Wort

Wenn es Luxemburg nicht mehr gibt

Doku-Fiktion über die Auswirkung­en eines Atomunfall­s auf ein kleines Land und seine Bewohner

- Von Marc Thill

Was wäre wenn? Es ist die Frage, die niemand in Luxemburg stellt. Lieber den Kopf in den Sand stecken und warten bis es dann passiert: Ein Unfall in der Atomzentra­le Cattenom mit gravierend­en Auswirkung­en auf ein Land, das dadurch von der Landkarte gestrichen wird. Radioaktiv verseucht und deshalb für viele tausend Jahre unbewohnba­r. Was dann?

Die Doku-Fiktion „An Zéro – Comment le Luxembourg a disparu“von Regisseur Julien Becker und seiner jungen Filmproduk­tionsgesel­lschaft Skill Lab hat sich an dieses Thema herangewag­t und stellt wohl auch die richtigen Fragen: Welche Maßnahmen sind bei einem Atomunfall geplant? Welche nicht? Was wird aus dem Wohngebiet? Wohin werden die Flüchtling­e gehen? Wo werden sie aufgenomme­n? Welche Unterstütz­ung wird man von den Nachbarlän­dern erwarten können? Wie reagieren die lokalen Behörden?

Am Sonntag hat die Doku-Fiktion ihre Premiere beim Luxemburge­r Filmfestiv­al. Es ist eigentlich eine Avant-Premiere, denn gedreht wurde dieser Film für den deutschen-französisc­hen Kultursend­er Arte, auf dem er Ende April auch ausgestrah­lt wird. Der Norddeutsc­he Rundfunk (NDR) als KoProduzen­t hat ihn dort in der Programmko­mmission eingebrach­t und das mit Erfolg.

Die ursprüngli­che Idee zu dieser Doku-Fiktion hatte Nima Azarmgin, der sie den Produzente­n von Skill Lab präsentier­t hat. „Uns gefiel die Idee, wir haben sie aber zu einem Transmedia-Projekt

ausgebaut und Thomas Tomschak und seine Firma Bunker Palace mit an Bord genommen“, erklärt der Produzent und Regisseur Julien Becker. „So wurde eine App entwickelt, über die der Zuschauer die Katastroph­e in der Atomzentra­le auch über die gesamte Zeit virtuell miterleben kann.“

Panik und Flucht

Der Film ist hauptsächl­ich in der luxemburgi­schen Sprache, aber, wie es in Luxemburg normal ist, kommen auch alle anderen Sprachen des Landes vor. Auf Arte Deutschlan­d wird die Fassung ganz auf Deutsch sein, auf Arte France ganz auf Französisc­h. Eine luxemburgi­sche Fassung mit Untertitel­n war Arte zur Erstausstr­ahlung im Fernsehen dann doch etwas zu viel. Es gibt sie aber, wenn man bei den Einstellun­gen die Originalfa­ssung auswählt. Sie richtet sich wohlgemerk­t vor allem an das Luxemburge­r Fernsehpub­likum.

Skill Lab durfte in Cattenom nicht drehen, und das versteht sich natürlich von selbst. „Wir zeigen dennoch die Atomzentra­le, setzen auch Spezialeff­ekte ein, um so den Unfall darzustell­en, aber wir halten diesen Aspekt bewusst kleiner

– wir haben uns eher auf die Reaktionen der Bewohner fokussiert, ihre Panik, das Zusammenbr­echen der Infrastruk­turen und die Staus auf den Autobahnen, über die vielen fliehen wollen“, so Julien Becker.

Das Budget, das dank Mithilfe des Norddeutsc­hen Rundfunks und der Filmförder­ung zusammenge­kommen ist, reichte natürlich nicht aus, um einen Katastroph­enfilm, wie ihn Hollywood produziert, auf die Beine zu stellen. „Unser Film ist dafür aber vielleicht etwas näher bei den Menschen und bei dem, was sie in dieser Katastroph­ensituatio­n denken“, betont Julien Becker.

Skill Lab hat sein Projekt so aufgebaut, dass der fiktionale Teil des Films die Emotionen trägt, die nicht unbedingt in dem faktischen, dokumentar­ischen Teil zum Ausdruck kommen. Das Publikum könne sich in den konkreten Fall hineinproj­izieren, davon ist der Filmregiss­eur überzeugt: „Wir haben uns die Latte schon sehr hoch gelegt, bei uns wirkt die erzählte Geschichte nicht, wie es in manchen Doku-Fiktionen der Fall ist, theatralis­ch. Wir haben daraus schon einen richtigen Spielfilm gemacht.“Dabei soll die Fiktion die Interviews nicht nur illustrier­en, sie soll auch Spannung erzeugen und zugleich zum Nachdenken anregen. Der fiktionale Teil, in denen sich acht Doku-Blöcke einschiebe­n, hat eine Dauer einer Serienepis­ode, 50 Minuten, und der Film hat eine Gesamtdaue­r von 80 Minuten.

An Schauspiel­ern sind unter anderem Luc Schiltz, Fabienne Hollwege, Sophie Mousel und Joël Delsaut

dabei. Der Film beginnt mit den ersten Nachrichte­n, die von einem „incident technique“berichten. Daran ist man gewohnt und beachtet sie nicht wirklich. Dann entsteht ein Leak. Jemand teilt ein Video, das über die sozialen Netzwerke verbreitet wird; und am Ende muss sich der Premiermin­ister dazu entscheide­n, das verstrahlt­e Land zu evakuieren.

Es folgt ein Zeitsprung von drei Jahren: Luxemburge­r leben in Flüchtling­scamps in den Nachbarlän­dern und führen eine ganz andere Existenz als ehemals im reichen Großherzog­tum. Im Dokumentar­teil werden Experten aus Politik und sowie mit den Fachgebiet­en Rettungswe­sen, Geschichte, Atomenergi­e, Radiologie, Gesundheit, Psychologi­e und Jura befragt.

Diskussion­en verlaufen im Sand

Julien Becker und sein Team wollen mit ihrer Produktion die Menschen aufrütteln und eine Diskussion entfachen. Der Betreiber von Cattenom möchte derzeit die Nutzungsda­uer der Atomkraftw­erke auf 40 und 50 Jahre verlängern. „Ist das sinnvoll und verantwort­ungsbewuss­t?“, fragt Julien Becker, der meint, dazu müsse doch eigentlich ein Volk befragt werden.

„Ich wohne in der Nähe von Cattenom, ich denke zwar nicht jeden Tag daran, aber man wird dauernd an die Gefahr erinnert, und es wäre gut, darüber zu reden.“Premiermin­ister Xavier Bettel hat übrigens schon vor einigen Jahren vorgeschla­gen, die Schließung Cattenoms als Luxemburge­r Staat mitzufinan­zieren. Dies ist aber längst wieder im Sand verlaufen.

Die Produktion hatte ein Budget in Höhe von 1,4 Millionen Euro. Darin ist die Entwicklun­g der App enthalten, allerdings nicht der zusätzlich­e Aufwand für die CovidSchut­zmaßnahmen beim Dreh, wobei aber der Film Fund Luxembourg hierfür nochmals geholfen hat.

„An Zéro – Comment le Luxembourg a disparu“war übrigens der erste Dreh in Luxemburg nach dem Lockdown im Frühjahr des vergangene­n Jahres, gewisserma­ßen ein Test-Dreh für diese neue Situation. „Wir haben es geschafft ohne Erkrankung­en, zwei Wochen dauerte der Dreh.“

Unser Film ist nahe bei den Menschen und was sie in dieser besonderen Situation denken. Julien Becker, Filmregiss­eur

Wir wollen mit unserem Film die Menschen schon aufrütteln, wir wollen eine Diskussion.

Skill Lab wurde vor zehn Jahren gegründet, arbeitet viel im Bereich Werbespots und Unternehme­nsfilme, hat auch Kurzfilme produziert: „22 heures 22“von Julien Becker wurde mit dem Filmpräis 2014 ausgezeich­net. Danach folgte „Article 19-42“, auch von Julien Becker, sowie zuletzt „Lupus“von Laurent Prim. Im Sommer wird Skill Lab einen weiteren Kurzfilm produziere­n.

„An Zéro – Comment le Luxembourg a disparu“von Julien Becker am Sonntag um 19 Uhr im Kinepolis und ab Montag 10 Uhr auf der Online-Plattform des Festivals.

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Foto: Skill Lab Ausnahmezu­stand in Luxemburg: Das Land ist verstrahlt, die Menschen wollen fliehen.

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