Der rote Judas
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Heinze nickte und Stainer fragte sich, warum er sich die Akte Jagoda noch einmal geholt hatte. „Versuchen Sie, die Dinant-Spur weiter zu verfolgen. Wer weiß, wohin die uns noch führt.“
„Die Dinant-Spur, Herr Inspektor?“Heinze sah fragend zu ihm herauf.
„Haben Sie meinen Kurzbericht noch nicht gelesen? Dr. Doppelmann hat dieses Kuvert hier am Tatort hinter dem Sekretär gefunden.“Stainer legte es auf die Akten. „Mit einem Absender in Dinant. Schreiben Sie ihn sich ab.“
„Und der dazugehörende Brief ist verschwunden?“
Stainer nickte. „Wie Murrmanns Brief ans Reichsgericht.“Er nahm das Foto aus dem Kuvert. „Das hat unser aufmerksamer Oberwachtmeister heute Morgen noch hinter dem Sekretär entdeckt.“Er reichte Heinze das Foto. „Finden Sie heraus, wer diese Frau ist.“
„Ob die belgische Polizei uns dabei behilflich sein wird?“Heinze schnitt eine skeptische Miene und schrieb den Absender und den Namen der Frau ab. „Ich bezweifle es.“„Versuchen Sie es wenigstens. Sprechen Sie Französisch?“Heinze nickte und Stainer steckte Foto und Kuvert wieder ein.
„Dann habe ich gerade mit einem Kollegen in der Hauptstadt telefoniert.“ Er legte dem stenografierenden Heinze das Telegramm auf den Briefblock. „Hier die Nummer. Er hat mit Else Murrmann gesprochen, Murrmanns Witwe. Und jetzt raten Sie mal, wen Robert Murrmann außer einem Reichsanwalt noch so alles treffen wollte in Leipzig.“Er nahm das Kuvert wieder an sich und schaute Heinze ins fragende Gesicht. „Heinrich Baumann und Friedrich Jagoda.“
Heinze ließ sich gegen seine Stuhllehne fallen und blies die Backen auf. „Schicken die Berliner das Vernehmungsprotokoll?“
„Das wird hoffentlich diese Woche noch bei uns eintreffen.“Mit seinem Blick deutete Stainer auf die Jagoda-Akte. „Sie überprüfen Ihre Ermittlungsergebnisse, wie ich sehe?“„Gott bewahre!“Heinzes Gestalt straffte sich. „Nein, nein, die Beweise gegen Hummels sind hieb- und stichfest. Nur …“Er lächelte verkrampft, blätterte in der Akte und zog ein Foto heraus, das er über den Schreibtisch zu Stainer schob. „Das hier macht mich im Nachhinein ein wenig nachdenklich. Die Parallele hat mich vorhin bei der Besprechung doch etwas überrascht, wissen Sie?“
Stainer, der ganz und gar nicht wusste, wovon sein Kommissar sprach, nahm das Foto hoch und betrachtete es. Es zeigte die Leiche eines Mannes, die neben einem Kronleuchter an einem Seil von der Decke hing. „Hummels hat Jagoda aufgehängt?“Stainer konnte es kaum glauben.
„Korrekt.“Heinze strich sich über die dichten Locken, er wirkte auf einmal müde. „Das bestreitet er natürlich, doch wir haben Dutzende Fingerabdrücke von ihm in Jagodas Wohnung gefunden. Hummels behauptet, Jagoda habe an der Front seine Soldaten schikaniert und zwei ganze Kompanien in den Tod geschickt.“
„Solche Männer gab es leider viel zu viele.“Stainers Miene verdüsterte sich. „Jagoda war also Offizier?“
„Korrekt.“Heinze nickte. „Wenige Stunden vor seinem Tod hat man ihn aus der Nervenklinik entlassen. Fünf Monate lang war er dort in Behandlung gewesen, nachdem er im Sommer in einer Elektrischen übergeschnappt ist und Fahrgäste und Schaffnerin angegriffen hat.“Heinze zuckte mit den Schultern.
„Hing vielleicht mit dem Tod seiner Frau zusammen, die ist nämlich Anfang 1919 an der Spanischen Grippe gestorben. Kurz nachdem Jagoda aus dem Feld zurückgekehrt war.“„Armer Kerl“, seufzte Stainer und dachte an die Begegnung mit Edith am vorletzten Mittwoch. „Wenigstens haben sie sich noch verabschieden können.“Sein Blick fiel auf eine schwarze Kladde zwischen den Deckeln der Akte Jagoda. „Was ist das?“
„Jagoda hat Tagebuch geführt. Nichts Besonderes – die täglichen Visiten, seine Wehwehchen, ein paar Lesefrüchte und so weiter.“
„Darf ich?“Stainer streckte die Hand aus.
„Und Zitate aus Hummels Drohbriefen.“Heinze zog die Kladde aus ihrer transparenten Papierhülle. „Deswegen habe ich es zu den Akten genommen.“
Tagebuch Dezember 1918 bis lautete der unvollendete Titel auf dem Etikett des Einbands. Während er zwischen Heinzes Schreibtisch und der Tür hin- und herlief, blätterte Stainer die Kladde von hinten durch und überflog die Eintragungen. Heinze hatte recht – es ging vor allem um Kopfschmerzen, Magendrücken, Rückenbeschwerden und Alpträume, die der Ta- gebuchschreiber allerdings nicht schilderte.
Du bist nicht der einzige, für den die Kriegsnächte kein Ende nehmen, dachte Stainer. Er schaute zu Heinze hinüber und fragte sich, ob ihn auch Alpträume plagten.
Beim Weiterblättern blieb sein Blick am Stichwort Reichsgericht hängen; er las den Eintrag genauer.
„Jagoda hatte mit dem Reichsanwalt zu tun“, wandte er sich an Heinze, „wussten Sie das?“
„Ja, Herr Inspektor Stainer. Das Reichsgericht hatte dem Gymnasialprofessor einen Termin für eine Anhörung gegeben.“
„Wann?“
Heinze blätterte in der Akte. „Nächsten Montag, neunter Fe- bruar, sieben Uhr, Zimmer 115.“
Stainer ging zu seinem Schreibtisch, wo sein Notizbuch lag. „Anhörung in welcher Sache?“„,Löwen‘ steht im Betreff und ein Datum.“Stainer notierte den Anhörungstermin und den Betreff: Löwen, 25. August 1914.
„Mehr geht aus dem Briefwechsel nicht hervor.“
„Danke.“Stainer vertiefte sich wieder in Jagodas Aufzeichnungen. Über viele Seiten in den Wintermonaten 1919 betrauerte er seine Frau in Einträgen, die länger waren, als die anderen. Auch über die Drohbriefe seines Mörders ließ er sich umfangreicher aus.
An einer Stelle stutzte Stainer und las murmelnd: „Vielleicht ist dieser lästige Hummels einfach nur ein Spinner unter vielen, dann wird er schon irgendwann aufhören mit diesem Unsinn. Sollte er aber mit der Operation Judas zu tun haben, ist er wirklich gefährlich. Vielleicht sollte ich ihn anzeigen, sobald ich entlassen bin.“
Auf Stainers Schreibtisch läutete das Telefon.