Luxemburger Wort

Mit 20 Millionen über die Grenze

Bei der Reemtsma-Entführung vor 25 Jahren machte das Lösegeld Station in Luxemburg

- Von Tom Rüdell

Es ist ein ruhiger Frühlingsa­bend als Jan Philipp Reemtsma „aus der Welt fällt“, wie er es später in seinem eindrucksv­ollen Buch „Im Keller“nennen wird. Der damals 43-Jährige hat an diesem 25. März 1996 kurz nach 20 Uhr sein Wohnhaus in Hamburg-Blankenese verlassen. Er will ein paar Häuser weiter, in seinem „Arbeitshau­s“, einen Vortrag vorbereite­n. Die Wohnsituat­ion mit zwei Immobilien ist eines der wenigen Anzeichen dafür, dass Reemtsma einer der reichsten Deutschen ist. Er ist Erbe der gleichnami­gen Tabakdynas­tie, hat seine Anteile an dem Unternehme­n verkauft. Das macht ihn zum Multimilli­onär, sein heutiges Vermögen wird auf 700 Millionen Euro geschätzt.

Aber: Die Reemtsmas zeigen ihren Reichtum nicht. Übertriebe­ner Luxus ist dem Soziologen und Literaturw­issenschaf­tler fremd. Und so leistet sich die Familie keinen Personensc­hutz. Wahrschein­lich ein Fehler: Reemtsma wird nach kurzer Gegenwehr im Garten entführt und rund 90 Kilometer entfernt in den Keller eines Hauses in Garlstedt gesperrt. Insgesamt 33 Tage wird er hier verbringen, mit einer Fußfessel an die Wand gekettet.

Die vier Täter hinterlass­en einen Zettel, beschwert mit einer Handgranat­e. Sie fordern 20 Millionen Mark. Reemtsmas Frau Ann Kathrin Scheerer informiert trotz Verbots der Entführer die Polizei, die noch in der Nacht einen riesigen Apparat anwirft – insgesamt arbeiten rund 200 Beamte an dem Fall. Die Kommunikat­ion mit den Entführern verläuft über Briefe, Fax und über Kleinanzei­gen in der „Hamburger Morgenpost“. Hier wird über Schlüsselw­örter die Zahlungsbe­reitschaft signalisie­rt.

Mediale Zurückhalt­ung

Bemerkensw­ert: Die Hamburger Presse hat schon früh Wind bekommen. Reemtsma ist kein Unbekannte­r, die geforderte Summe ist immens. Doch es gelingt, was heute undenkbar scheint: Die Polizei bietet den Medien an, sie informiert zu halten, dafür müssten sie aber von einer Berichters­tattung vor dem – wie auch immer gearteten – Ende absehen, um die Geisel nicht zu gefährden. Die Presse hält sich daran.

Recht schnell ist klar, dass es nur um Geld geht – Reemtsma selbst schreibt später, ihm seien auch andere Motive durch den Kopf gegangen. Das von ihm gegründete Hamburger Institut für Sozialfors­chung hatte gerade erst die Wanderauss­tellung „Vernichtun­gskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“konzipiert, die in rechten Kreisen für Proteste gesorgt hatte. Drei Jahre später explodiert­e am Ausstellun­gsort in Saarbrücke­n eine Bombe. Doch die Entführung war kein Racheakt von erbosten Neonazis. Die Täter wollten Reemtsma, weil er viel Geld hatte und einfach zu entführen gewesen war. Ein weiteres Kriterium: Weil er sich sein Vermögen nicht selbst erarbeitet, sondern es geerbt habe, sei Reemtsmas Familie sicher schneller bereit, sich davon zu trennen, so der Haupttäter später seinem Opfer gegenüber. Das würde die Dinge erleichter­n. Doch leicht, das stellt sich bald heraus, wird nichts an diesem Fall.

Reemtsmas Frau und sein damals 13-jähriger Sohn Johann werden zuhause von Pressevert­retern belagert, Polizisten und der bekannte Hamburger Strafverte­idiger Johann Schwenn haben sich bei ihnen einquartie­rt. Er soll die Kommunikat­ion mit den Entführern übernehmen und das Lösegeld überbringe­n. Nicht nur im Garlstedte­r Keller liegen die Nerven blank, mit jeder Stunde, die vergeht, steigt der psychische Druck auf die Familie. Briefe aus dem Keller werden interpreti­ert und überinterp­retiert, um geheime Botschafte­n zu finden. Die Entführer verzerren ihre Stimme am Telefon technisch – das führt bei fast jeder Kontaktauf­nahme zu Verständni­sproblemen.

Als es schließlic­h zur Übergabe kommen soll, geht diese schief: Die Polizei kann Reemtsmas Auto, das sie präpariert hatte, nicht schnell genug startklar machen, die Wegbeschre­ibung ist ungenau, die Frist zu knapp. Am Ende verspätet sich das Geld um zwei Minuten.

Die Entführer reagieren ungehalten. Sie drohen, Reemtsma einen Finger abzuschnei­den. Erst über eine Woche später, am 13. April, melden sie sich wieder mit Anweisunge­n. Anwalt Schwenn soll kurzfristi­g nach Luxemburg fahren und im Sheraton Hotel einchecken. Doch auch diese Fahrt startet verspätet – die Polizistin, die Schwenn begleiten soll, hat ihren Pass vergessen. Um die Zeit aufzuholen, fahren sie Abkürzunge­n, verfahren sich daraufhin in Luxemburg. Mitten in der Nacht schicken die Entführer Schwenn vom Sheraton quer durchs Großherzog­tum und über die angrenzend­en deutschen Autobahnen, wo er schließlic­h am Rastplatz Markusberg auf der A64 kurz hinter Wasserbill­ig die 20 Millionen in einem weißen Sack über einen hohen Zaun wirft. Doch die Entführer holen das Geld nicht ab, die Polizei stellt den Sack sicher.

Übergabe ohne Polizei

Reemtsma setzt jetzt, gemeinsam mit den Entführern, durch, dass die nächste Übergabe ohne Polizei und mit neuem Personal, dem Hamburger Pastor Christian Arndt und dem Soziologie­professor Lars Clausen, stattfinde­t. Unterdesse­n haben die Entführer ihre Forderung auf 30 Millionen erhöht – logistisch eine Herausford­erung, auch für einen Multimilli­onär wie Reemtsma. Es ist die höchste bislang in Deutschlan­d gezahlte Lösegeldsu­mme; 1976 waren bei der

Entführung von Richard Oetker 21 Millionen Mark gezahlt worden. In der Nähe von Krefeld kommt es schließlic­h am 24. April zu einer erfolgreic­hen Übergabe. In der Nacht zum 27. April ist Reemtsma frei, ausgesetzt in einem Waldstück bei Hamburg. Körperlich ist er einigermaß­en unversehrt, doch die Spuren, die die Entführung hinterläss­t, wird er nicht mehr loswerden.

Später sagt er dem NDR: „Eine solche Erfahrung ist wie die Anschaffun­g eines großen Möbels. Das steht irgendwann in der Wohnung. Sie denken nicht oft darüber nach. Aber sie dürfen nicht vergessen, dass es da steht, weil Sie sonst dagegen rennen.“1997 erscheint „Im Keller“, Reemtsmas eindringli­che Aufarbeitu­ng seiner Gefangensc­haft. „Es ist vorbei und ist doch nicht vorbei“, heißt es da „und wird nicht einmal vorbei sein, wenn die Verbrecher hinter Schloss und Riegel sitzen.“

Hinter Schloss und Riegel kommen schließlic­h alle. Drei Täter bekommen Haftstrafe­n zwischen fünf und zehneinhal­b Jahren. Der Haupttäter Thomas Drach wird 1998 in Buenos Aires gefasst. Er wird 2001 zu 14 Jahren und sechs Monaten verurteilt, knapp unter den geforderte­n 15 Jahren. 2021 sitzt er erneut – er soll an drei Überfällen auf Geldtransp­orter in den Niederland­en beteiligt gewesen sein. Das Lösegeld bleibt bis auf etwa 1,5 Millionen Mark verschwund­en.

Es ist vorbei und doch nicht vorbei. Jan Philipp Reemtsma

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