Netanjahu muss um den Sieg bangen
Israels politisches System bleibt instabil: Nach der vierten Wahl spricht man in Jerusalem bereits von der fünften
Israel hat vorgestern zwar gewählt. Aber noch ist nicht entschieden, ob Benjamin Netanjahu erneut ins Büro des Premierministers einziehen wird. Er hatte sich den Bürgern als „Impfweltmeister“empfohlen und die vier Normalisierungsverträge mit arabischen Staaten ins Zentrum seiner Kampagne gerückt. Doch der Impferfolg hat ihn politisch nicht immun gemacht. Für eine mehrheitsfähige Allianz im Parlament, die aus rechten und religiösen Parteien bestehen wird, fehlen Netanjahu eine bis zwei Stimmen. Sollte sich nach Auszählung aller Wahlzettel morgen die Pattsituation bestätigen, könnte es schon im Sommer zu Neuwahlen kommen. Es wären die fünften innerhalb von weniger als 30 Monaten.
Der Impferfolg hat Netanjahu politisch nicht immun gemacht.
Netanjahu gibt sich vorsichtig, aber kämpferisch. In der Wahlnacht sprach er von einer „großartigen Leistung“, vermied es aber, das Wort „Sieg“zu benutzen. Er werde mit allen Parteien sprechen, die „unsere Werte vertreten“, sagte er zudem. Damit deutete er an, dass er sich bei rechten Parteien auf die Suche nach Abtrünnigen machen werde, um mit ihrer Hilfe auf eine Mehrheit in der Knesset zu kommen.
„Für“oder „gegen“Netanjahu
Im Wahlkampf war es weder um ideologische, außenpolitische oder ökonomische Fragen gegangen, sondern vor allem darum, ob man „für“Netanjahu oder „gegen“ihn ist. Auch wenn Netanjahu rechtzeitig bei Pfizer und Moderna Ampullen bestellt hat: Der 71Jährige polarisiert. Erstens hat er in den vergangenen Monaten als Krisenmanager versagt. Die Fallzahlen waren im internationalen Vergleich bis vor Kurzem überdurchschnittlich hoch. Und aus Sicht vieler Wähler spricht zweitens vor allem gegen ihn, dass er sich vor Gericht in drei Korruptionsfällen wegen Bestechung, Betrug und Vertrauensmissbrauch verantworten muss. Laut Gesetz darf ein Regierungschef so lange im Amt bleiben, als er nicht rechtmäßig verurteilt ist. Netanjahu beteuert seine Unschuld und bezeichnet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe als „fabriziert“.
Bevor er sich den Richtern stellt, wird er versuchen, sich eine Mehrheit im Parlament zu sichern. Dazu braucht es 61 Abgeordnete. Gemäß Hochrechnung kann sich Netanjahu derzeit auf einen Block von 53 Stimmen stützen, der Anti-Netanjahu-Block bringt es auf 56 Mandate. Zwei Parteien könnten das Zünglein an der Waage sein: Die islamistische Partei Raam, die von Mansour Abbas geleitet wird und die auf fünf Knesset-Sitze hofft, sowie die rechtsgerichtete Jamina-Partei von Naftali Bennett, die es laut Hochrechnung auf sieben Mandate bringt. Eine Mehrheit kann sich Netanjahus Block nach derzeitigem Stand nur sichern, wenn er eine Koalition mit diesen beiden Parteien schmiedet, die allerdings unterschiedlicher nicht sein könnten.
Naftali Bennett könnte sich demgegenüber dem Anti-Netanjahu-Block anschließen und diesem zu einer Mehrheit
verhelfen. Doch die Parteien, die sich zu diesem Block zählen, sind ideologisch so weit voneinander entfernt, dass ein politischer Spagat nötig wäre, um linke und rechtsgerichtete unter einem Dach zusammenzubringen. Zudem hofft Bennett nach dem Ausscheiden Netanjahus aus der Politik, das derzeit allerdings nicht absehbar ist, auf eine Führungsrolle im rechten Parteispektrum. Würde er jetzt mit linken Parteien gemeinsame Sache machen, könnte man ihm das eines Tages als Makel vorwerfen.
Außenpolitisches Risiko
Sicher ist derzeit bloß, dass Netanjahu auf eine Partnerschaft mit einer Gruppe setzt, die so extrem ist, dass selbst US-Fans von Netanjahu entsetzt sind. Das „American Israel Public Affairs Committee“(Aipac) hat die Partei „Jewish Power“, die Netanjahu in seine Allianz aufnehmen will, als ultranationalistisch, rassistisch und verwerflich bezeichnet, manche würden sagen: beschimpft. Insgesamt haben die UltraNationalisten bei den Wahlen besser abgeschnitten als erwartet. Sie könnten dafür sorgen, dass der Prozess gegen Netanjahu abgesagt oder zumindest auf später verschoben wird.
Außenpolitisch wäre das Abstützen auf die radikale Partei der religiösen Zionisten ein Risiko. Andererseits hat Netanjahu in den vergangenen Jahren immer wieder gezeigt, dass ihm kleine Schritte lieber sind als große, sagt der Politanalyst Yaron Deckel. Er werde deshalb versuchen, die radikalen Kräfte in seine Koalition einzubinden und seine langjährige Erfahrung in der Innenund Außenpolitik nutzen, um zwischen seinen radikalen Partnern zu Hause sowie Washington und Brüssel zu manövrieren. Im Konflikt mit den Palästinensern erwartet Politexperte Deckel keine neue Strategie. Netanjahu wolle den Konflikt managen, ohne ihn zu lösen.