Brief aus Hellas
Über Herz und Schmerz und das 200. Jubiläum der griechischen Revolution aus dem Blickwinkel der in Griechenland lebenden Luxemburger Schriftstellerin Linda Graf
Düstere Wolken über der Akropolis in Athen.
ben die Griechen sich ihre Identität bis auf den heutigen Tag bewahrt.
Eine der zig landesüblichen Traditionen ist, dass am 25. März in jedem griechischen Haushalt – und wenn ich sage in jedem Haushalt, dann meine ich das so – dieselbe Mahlzeit verspeist wird: bakaliaro skordalia, Kabeljau mit Knoblauchpüree. Wohl fällt der Tag in die orthodoxe Fastenzeit, aber an diesem Tag, an dem alle Griechen der Befreiungsrevolution gedenken, hat die Fastenregel eine Ausnahme: heute dürfen alle Fisch essen! Bereits Tage vorher treffen in allen Läden Kisten mit eingesalzenem Kabeljau ein, und am 25. März nehmen alle Griechen landesweit dieselbe Mahlzeit ein. Solche Gebräuche vereinen ein Volk, trotz politischer Uneinigkeiten, trotz innen- und außenpolitischer Krisen.
Das Eingreifen des englischen Dichters Lord Byron, Zeitgenosse der 1821 beginnenden Griechischen Revolution, liefert ein veranschaulichendes Beispiel dafür, um zu beschreiben, unter welchen Umständen der die griechische Geschichte prägende Freiheitskampf stattgefunden hat. Als 21-Jähriger verbringt Byron während einer zweijährigen Reise, die ihn übers Mittelmeer in den Orient führt, einige Zeit in Griechenland und beschreibt diese als die glücklichste Zeit seines Lebens. Bei seiner Rückkehr in England hisst der griechisch orthodoxe Bischof Germanos von Patras im Kloster von Agia Lavras auf dem Peloponnes derweil die griechische Flagge und heizt das peloponnesische Volk dazu auf, sich gegen die islamische Herrschaft zu erheben. Gleich zu Beginn der Revolution sympathisiert der Romantiker Byron mit Germanos‘ Motto: „Freiheit oder Tod“. Er bezieht politisch Stellung und wiegelt im europäischen Raum linke Liberale und revolutionäre Intellektuelle dazu auf, sich für den griechischen Freiheitskampf zu begeistern und einzusetzen.
Ein erster Erfolg lässt sich auf dem Peloponnes verzeichnen, als die griechischen Freiheitskämpfer dem Aufruf „Freiheit oder Tod“folgen und innerhalb weniger Tage 15 000 Türken umbringen und Tausende in die Flucht schlagen. Als dann auch noch eine Nationalversammlung 1822 Griechenlands Unabhängigkeit proklamiert, reagiert der Sultan, indem er sich auf brutale Weise revanchiert. Er beauftragt eine türkische Flotte zur nahegelegenen, isolierten griechischen Insel Chios, wo er alle Häuser zerstören, Tausende von Männern töten und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verschleppen lässt. In ganz Europa empört man sich über das brutale Gemetzel. Um die griechischen Freiheitskämpfer ideell und finanziell zu unterstützen, gründen nun mehrere europäische Länder Vereine der Griechenlandfreunde. In diesem Rahmen wird Byron vom Londoner Griechischen Komitee dazu beauftragt, die Griechen mit Medikamenten, Munition, mit Waffen und mit Geld zu beliefern. 1824 trifft er mit zwei Schiffen und 500 englischen Soldaten in Patras ein.
Da die Festung am Golf von Patras sich bereits zweimal gegen die Türken behauptet hat, gilt sie als Symbol der Griechischen Revolution. Doch vor Ort stellt Byron enttäuscht fest, dass zwischen seinen idealistischen Vorstellungen eines vereinten Kampfes der Griechen gegen die Türken Welten liegen. Die griechischen Splittergruppen sind untereinander zerstritten, es gibt keine einheitliche Führung und keine einheitliche Strategie im Kampf gegen die Osmanen. Auch will jede Gruppe die hohen Geldbeträge und Hilfeleistungen für sich allein in Anspruch nehmen. Unschlüssig, wen er unterstützen soll, macht Byron sich nach dem belagerten Messolongi auf, wo er – ohne am Kampf teilgenommen zu haben – an Fieberschüben erkrankt und 1824 stirbt. Trotz ihren Streitigkeiten vereint die landesweite Trauer um den Mitkämpfer im Griechischen Freiheitskampf kurzfristig wieder das ganze Volk und ruft den Griechen ins Bewusstsein zurück, dass sie einen gemeinsamen Kampf kämpfen, den Kampf um die Freiheit des gesamten griechischen Volkes.
Als ich meine Freundin Evigenia nach ihrer Meinung zum bevorstehenden Jubiläum frage, lässt sie sich mit ihrer Antwort Zeit. Die Sache geht ihr unter die Haut, sehr sogar, sie sucht in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch, und ich spüre bei ihr die gleiche Traurigkeit wie bei der jungen Studentin. Evigenia ist Fotografin, sie stammt aus Athen und lebt seit 2014 mit ihren beiden Töchtern und mit ihrem Mann am Ionischen Meer. „Dieses 200. Jubiläum“, beginnt sie, ihre Worte sorgsam abwägend, „spielt eine wichtige Rolle für uns. Der Gedenktag sollte uns Griechen unseren verloren gegangenen Stolz ins Gedächtnis zurückrufen. Aufgrund der zermürbenden Wirtschaftskrise und den sich dahinziehenden Einschränkungen der Lockdowns haben wir vergessen, wer wir sind, für welche Werte wir als Volk einstehen, und immer schon eingestanden haben. Wir haben uns unsere Unabhängigkeit und unsere Freiheit stets schwer erkämpft. Wir symbolisieren die Demokratie. Es tut mir weh zu sehen, dass die grassierende Traurigkeit, dass Wut und Mutlosigkeit über die bestehenden Umstände mehr Gewicht einnehmen als unsere einstige Lebensfreude, als unser einstiger Stolz darauf, unabhängig und frei zu sein. Ich erhoffe mir, dass das 200. Jubiläum an unsere Würde appelliert und uns daran erinnert, wie viele Hürden wir bereits im Lauf der Zeit gemeinsam bewältigt haben und dass wir jeden Grund dazu haben, stolz auf uns zu sein.“
„Freiheit oder Tod“