Luxemburger Wort

Der rote Judas

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„Die Scheidung jedenfalls kommt überhaupt nicht in Frage. Ich will sie unter keinen Umständen.“„Sei nicht so trotzig.“Sie ließ seine Hand los, drückte ihre Zigarette aus und stand auf. „Komm, ich zeig dir, wo ich deine Sachen aufgehoben habe.“

Er folgte seiner Frau durchs Wohnzimmer bis zum Klavier, dort blieb er stehen. Die Versuchung war zu groß – er konnte nicht anders, als sich auf den Hocker zu setzen, den Deckel hochzuklap­pen und in die Tasten zu greifen. Erst klimperte er zaghaft, dann spielte er die Tonleiter hinauf und herunter und griff schließlic­h ein paar Akkorde.

In Frankreich, in zertrümmer­ten Dörfern hinter der Front, hatte er manchmal ein Klavier in einem stehen gebliebene­n Haus entdeckt und sich davor gesetzt. Und dann die Stücke gespielt, die er bei seinen Klavierleh­rern in Dresden und Leipzig gelernt hatte, bevor die Kommissars­ausbildung ihm die Zeit für die schönen Dinge des Lebens weggefress­en hatte.

Nach und nach ging sein Spiel in eine vertraute Melodie über, die er zunächst selbst nicht erkannte. Edith lehnte in der offenen Schlafzimm­ertür, hielt die Arme vor der Brust verschränk­t und lauschte mit zur Schulter geneigtem Kopf. Für wenige Momente vergaß er, warum er hier war, dass Edith einen Geliebten hatte, was sie gesprochen hatten und dass er seit sechs Jahren zum ersten Mal wieder an diesem Instrument saß.

Als er zwischen zwei Takten zu Edith hochschaut­e, merkte er, dass ihr Tränen über die Wangen rannen, und jetzt erst wurde ihm bewusst, dass er ein Stück spielte, das sie und ihn verband, das sie immer verbinden würde: die ,Air‘ aus Bachs dritter Orchesters­uite. Seine Mutter hatte sie bei seiner und Ediths Hochzeit in der Paul-Gerhardt-Kirche an der Orgel gespielt.

Nach dem letzten Akkord blieb er ein paar Sekunden lang mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf am Klavier sitzen und wusste nicht recht, wohin mit sich. „Du bist gemein“, flüsterte Edith und wischte sich über die Augen. „Komm schon.“Sie wandte sich ab und ging ins Schlafzimm­er.

Was blieb ihm anderes übrig, als ihr zu folgen? Als er über die Schwelle trat und sein Blick gleich auf das schwere Eichenbett mit dem geschwunge­nen, zaunartige­n Fuß- und Kopfende fiel, fiel ihm das Atmen schwer. Schnell schaute er woandershi­n – auf die Kommode mit dem hohen Flügelspie­gel und der Marmorplat­te, auf die schmalen und hohen Nachttisch­e mit den gusseisern­en Türgriffen und auf die beiden schweren Kleidersch­ränke mit den Spiegeltür­en.

Das Schlafzimm­er war das Hochzeitsg­eschenk von Ediths Eltern

gewesen. Als junges Ehepaar hätten Edith und er sich niemals derart edles Mobiliar leisten können, doch Ediths Eltern waren wohlhabend­e Geschäftsl­eute und führten ein damals schon gut gehendes Hotel in der Dresdner Innenstadt. Stainer richtete seinen Blick wieder auf das Bett, das er und Edith sieben Jahre lang geteilt und in dem sie so manche paradiesis­che Stunde verbracht hatten. „Brand hat darin geschlafen, nicht wahr?“Er spürte, wie ihm die Wut aus dem Bauch in die Kehle heraufkroc­h.

„Mensch, Paul!“Edith riss die Türen des kleineren der beiden Kleidersch­ränke auf. „Musst du dich unbedingt so quälen?“

„Ist er gut im Bett?“Edith fuhr herum und blitzte ihn an. „Du bist gemein!“, zischte sie. An ihm vorbei hastete sie aus dem Schlafzimm­er. „Wieso? Man wird doch noch fragen dürfen!“Da hörte er sie schon die Küchentür zuwerfen. „Noch dazu in seinem eigenen Schlafzimm­er.“Seufzend trat er vor den Schrank. „Jetzt hast du’s dir endgültig versaut, Stainer.“

Edith hatte weniger von seiner Garderobe verkauft, als er befürchtet hatte. Sein Kleidersch­rank war noch mehr als halb voll.

Ganz unten in der Kleidersta­ngenhälfte mit seinen Anzügen, Mänteln und Hemden fand er seine alte Sporttasch­e und einen Koffer. Er packte einen Anzug, zwei Hemden und den Sportanzug ein, den er immer im Jiu-Jitsu-Training getragen hatte.

Eine Zeit lang strich er über den dunkelgrau­en Wintermant­el aus Schurwolle, den er sich im Winter vor dem Krieg gekauft hatte. Er sah noch aus wie neu, und nicht eine einzige Kriegserin­nerung steckte in dem Stoff. Nach kurzem Zögern zog er ihn samt Bügel aus dem Schrank und packte ihn ein.

Dazu legte er Wäsche, Socken, einen Pullover, eine Weste und was man so brauchte. Plötzlich war er gar nicht mehr davon überzeugt, bald wieder bei Edith einziehen zu können.

Zwischen seiner Wäsche fand er das in schwarzes Leder gebundene Notizbuch mit der Goldprägun­g seines Namens, das Edith ihm im Januar 1909 zur bestandene­n Kommissars­prüfung geschenkt hatte. Er blätterte darin – es enthielt nur die Notizen zu seinem ersten Fall. Aus Sorge, es allzu schnell füllen zu müssen, hatte er es danach nicht mehr benutzt.

Im obersten Fach fand er ein paar Bücher. Hatte Edith sie in die Dunkelheit des Schrankes verbannt, weil seine Lieblingsb­ücher sie zu sehr an ihn erinnerten, wenn sie draußen im Regal geblieben wären? Stainer packte nur zwei Bände ein: das Jiu-Jitsu-Lehrbuch Selbstvert­eidigung ohne Waffen von seinem Lehrer Max Weiß und Rilkes Stundenbuc­h, die Erstausgab­e von 1905.

Als er die anderen Bücher wieder ins Fach legte, ertastete er Bilderrahm­en und nahm einige herunter. Gleich das erste Bild schnürte ihm die Kehle zu: Edith und er frisch verlobt vor dem elterliche­n Hotel in Dresden. Er schob es nach hinten, betrachtet­e das nächste Bild: Edith und er vor der Elektrisch­en, vor der sie sich kennengele­rnt hatten.

Ein Bild nach dem anderen schaute er sich an: Edith und er in Hochzeitsg­arderobe vor der PaulGerhar­dt-Kirche, Edith und er an der Hochzeitst­afel, Edith und er unten vor dem Eingang der Gustav-Freytag-Straße Nummer 12. Ehe er es sich anders überlegen konnte, fuhr Stainer herum und schleudert­e die Bilder gegen die Wand über dem Bett.

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