Spagat in den Niederlanden
Bei der Regierungsbildung müssen die liberalen Wahlsieger sehr unterschiedliche Interessen unter einen Hut bringen
Sein Beiname lautet Klimawachhund. Nicht umsonst. Und deshalb ließen die Worte des ehemaligen rechtsliberalen Umweltministers Ed Nijpels an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig: „Wenn wir die Klimaziele von Paris einhalten wollen, muss das neue Kabinett zusätzliche Maßnahmen ergreifen“, mahnte der Mann, der als Vorsitzender der nationalen Klimagespräche dafür gesorgt hatte, dass auch die Niederlande im Sommer 2019 ein Klimagesetz verabschieden konnten.
Aber die darin aufgenommenen Maßnahmen reichten nicht aus, weder für Paris noch für die neuen Ziele, die sich die EU in diesem Jahr stecken will, so Nijpels: „Wir Niederländer denken immer noch, dass wir in Sachen Klimaschutz zu den Klassenbesten in Europa gehören.“Das Gegenteil sei der Fall, „und deshalb kommen wir um unangenehme Maßnahmen nicht länger herum“.
Die Einführung von Kilometergeld zum Beispiel, das Autofahrer je nach Uhrzeit, Autotyp und Strecke entrichten müssen. Oder eine Erhöhung des Gaspreises, denn die meisten niederländischen Haushalte heizen und kochen nach wie vor mit Gas. „Wir haben jede Menge Hausaufgaben zu erledigen“, so Nijpels, „neue, aber auch viele liegengebliebene.“
Mark Rutte, der alte und voraussichtlich auch neue Ministerpräsident des Landes, dürfte bei diesen Worten seines Parteifreundes Bauchschmerzen bekommen haben. Denn von solchen Maßnahmen wollen er und seine rechtsliberale Unternehmerpartei VVD nichts wissen – obwohl das Klimaproblem für das neue Kabinett eine noch größere Herausforderung darstellen wird als die Folgen der Corona-Krise.
VVD und D66 stehen sich diametral
gegenüber
Ganz anders die linksliberalen D66-Demokraten von Sigrid Kaag, die bei den Wahlen Mitte März überraschend zweitstärkste wurden: Maßnahmen wie Kilometergeld hat D66 längst im Parteiprogramm stehen. Denn, so Sigrid Kaag: „Unser Haus steht in Brand!“
Mit Rutte und Kaag sind zwei Liberale Wahlsieger geworden – aber sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Er guckt nach rechts, sie guckt nach links. Zusammen mit den Christdemokraten und der streng calvinistischen Splitterpartei Christenunie könnten die beiden zwar erneut eine Mehrheit bilden – aber die Vierparteienkoalition gilt als lieblose Vernunftehe, ohne Aussicht auf Wiederholung.
Zumal die D66-Demokraten aufgrund ihres Wahlerfolgs selbstbewusster denn je auftreten können: D66 will mehr Europa und sieht auch in auch gemeinsamen Schulden kein Problem; Ruttes VVD will zwar nicht weniger Europa, aber keinesfalls mehr. D66 will mehr Flüchtlinge aufnehmen, die VVD hingegen notfalls die Grenzen schließen.
Auch beim Umweltschutz und in der Klimapolitik stehen sich die beiden größten Fraktionen im neuen niederländischen Parlament diametral gegenüber. So möchte D66 eine Fleischsteuer einführen und die Zahl der Nutztiere ganz rabiat halbieren – zur Empörung der Bauern, die deswegen im Herbst 2019 erstmals mit ihren Traktoren nach Den Haag zogen und ein Verkehrschaos anrichteten.
Bisher konnten die niederländischen Landwirte auf Rationalisierung und Intensivierung setzen. Wachstum und immer höhere Produktionszahlen waren das Maß aller Dinge. Auf diese Weise konnte das kleine Land im Rheindelta nach den USA zum zweitgrößten Agrarexporteur der Welt aufsteigen. Doch die intensive Landwirtschaft geht auf Kosten von Tierwohl und Natur: So verschmutzt die Gülle von Kühen und Schweinen durch Ammoniakemissionen die Luft und belastet in
Form von Nitrat auch Böden und Grundwasser.
Darüber hinaus ist die Nutztierhaltung für den weitaus größten Teil der Stickstoffemissionen verantwortlich – und damit für ein zweites großes Problem, das schon jetzt bei den Koalitionsverhandlungen als tickende Zeitbombe gilt: die sogenannte „stikstofcrisis“. Die Niederlande überschreiten die von der EU vorgeschriebenen Grenzwerte für Stickstoffemissionen schon seit Jahren. Die Gegenmaßnahmen, die die Regierung ergriffen hatte, waren vom höchsten Verwaltungsgericht 2019 für unzureichend erklärt worden. Seitdem stecken die Niederlande buchstäblich in der Klemme: Denn auch beim Wohnungs- und Straßenbau wird Stickstoff freigesetzt. Und der muss aufgrund des Gerichtsurteils erst kompensiert werden, bevor weiter gebaut werden kann.
Wir Niederländer denken immer noch, dass wir in Sachen Klimaschutz zu den Klassenbesten in Europa gehören. Ed Nijpels, Ex-Umweltminister
Rutte hatte auf schnelle Koalitionsverhandlungen gehofft, das Gegenteil ist eingetreten.
Stickstoffkrise verursacht Wohnungsnot
Trotz der extrem hohen Wohnungsnot – ein drittes gigantisches Problem: Derzeit fehlen rund 330 000 Wohnungen, bis 2025 werden es 420 000 sein. Zehntausende von Niederländern wohnen notgedrungen in Ferienhäuschen in Freizeitparks, die Zahl der Obdachlosen hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Der Mangel an Wohnraum steigt seit Jahren, doch die bisherigen Regierungen von Mark Rutte haben nichts dagegen unternommen. Nun sollen bis 2030 eine Million neuer Häuser gebaut werden – soweit die Stickstoffkrise das zulässt. Als kurzfristige Lösung wurde im März 2020 auf den Autobahnen Tempo 100 eingeführt. Zwar sorgen alle Autos zusammen nur für 6,1 Prozent der Stickstoffemissionen. Aber dank dieser Einsparungen konnten 2020 immerhin noch 75 000 Wohnungen gebaut werden.
Eine Halbierung der Nutztiere würde das Problem schlagartig lösen, das bestätigen auch Nachhaltigkeitsforscher wie Pieter de Wolf von der Landwirtschaftsuniversität Wageningen: „Selbst wenn wir alle Kühe, Schweine und Hühner luftdicht wegsperren – mit so vielen Tieren lässt sich das Stickstoffproblem unmöglich lösen. Das geht einfach nicht!“
Trotzdem kommt eine drastische Reduktion der Tiere weder für die VVD noch für den Bauernfreundlichen
Christlich-Demokratischen Appell CDA infrage. Mit ihm würde Rutte am liebsten weiterregieren, doch die niederländischen Christdemokraten ziehen aufgrund ihrer Verluste möglicherweise die Opposition vor. Außerdem hat eine Panne bei den Koalitionsgesprächen letzte Woche ihr Vertrauen in Ruttes Rechtsliberale erschüttert: Über ein Pressefoto waren vertrauliche Notizen über einen CDA-Abgeordneten an die Öffentlichkeit gelangt. Eine der beiden Sondiererinnen hatte sie beim Verlassen des Regierungsviertels sichtbar unterm Arm getragen. Die Gespräche wurden daraufhin ausgesetzt.
Eine Debatte im neuen Parlament, das gestern erstmals zusammentrat, sollte die Hintergründe dieser Panne klären. Heute werden die Koalitionsgespräche dann mit zwei neuen Sondierern fortgesetzt. Bislang steht nur aber eines fest: Leichter ist es nicht geworden. Rutte hatte auf schnelle Koalitionsverhandlungen gehofft, das Gegenteil ist eingetreten.