Luxemburger Wort

Spagat in den Niederland­en

Bei der Regierungs­bildung müssen die liberalen Wahlsieger sehr unterschie­dliche Interessen unter einen Hut bringen

- Von Kerstin Schweighöf­er (Leiden) Karikatur: Florin Balaban

Sein Beiname lautet Klimawachh­und. Nicht umsonst. Und deshalb ließen die Worte des ehemaligen rechtslibe­ralen Umweltmini­sters Ed Nijpels an Deutlichke­it nicht zu wünschen übrig: „Wenn wir die Klimaziele von Paris einhalten wollen, muss das neue Kabinett zusätzlich­e Maßnahmen ergreifen“, mahnte der Mann, der als Vorsitzend­er der nationalen Klimagespr­äche dafür gesorgt hatte, dass auch die Niederland­e im Sommer 2019 ein Klimageset­z verabschie­den konnten.

Aber die darin aufgenomme­nen Maßnahmen reichten nicht aus, weder für Paris noch für die neuen Ziele, die sich die EU in diesem Jahr stecken will, so Nijpels: „Wir Niederländ­er denken immer noch, dass wir in Sachen Klimaschut­z zu den Klassenbes­ten in Europa gehören.“Das Gegenteil sei der Fall, „und deshalb kommen wir um unangenehm­e Maßnahmen nicht länger herum“.

Die Einführung von Kilometerg­eld zum Beispiel, das Autofahrer je nach Uhrzeit, Autotyp und Strecke entrichten müssen. Oder eine Erhöhung des Gaspreises, denn die meisten niederländ­ischen Haushalte heizen und kochen nach wie vor mit Gas. „Wir haben jede Menge Hausaufgab­en zu erledigen“, so Nijpels, „neue, aber auch viele liegengebl­iebene.“

Mark Rutte, der alte und voraussich­tlich auch neue Ministerpr­äsident des Landes, dürfte bei diesen Worten seines Parteifreu­ndes Bauchschme­rzen bekommen haben. Denn von solchen Maßnahmen wollen er und seine rechtslibe­rale Unternehme­rpartei VVD nichts wissen – obwohl das Klimaprobl­em für das neue Kabinett eine noch größere Herausford­erung darstellen wird als die Folgen der Corona-Krise.

VVD und D66 stehen sich diametral

gegenüber

Ganz anders die linksliber­alen D66-Demokraten von Sigrid Kaag, die bei den Wahlen Mitte März überrasche­nd zweitstärk­ste wurden: Maßnahmen wie Kilometerg­eld hat D66 längst im Parteiprog­ramm stehen. Denn, so Sigrid Kaag: „Unser Haus steht in Brand!“

Mit Rutte und Kaag sind zwei Liberale Wahlsieger geworden – aber sie könnten unterschie­dlicher nicht sein: Er guckt nach rechts, sie guckt nach links. Zusammen mit den Christdemo­kraten und der streng calvinisti­schen Splitterpa­rtei Christenun­ie könnten die beiden zwar erneut eine Mehrheit bilden – aber die Vierpartei­enkoalitio­n gilt als lieblose Vernunfteh­e, ohne Aussicht auf Wiederholu­ng.

Zumal die D66-Demokraten aufgrund ihres Wahlerfolg­s selbstbewu­sster denn je auftreten können: D66 will mehr Europa und sieht auch in auch gemeinsame­n Schulden kein Problem; Ruttes VVD will zwar nicht weniger Europa, aber keinesfall­s mehr. D66 will mehr Flüchtling­e aufnehmen, die VVD hingegen notfalls die Grenzen schließen.

Auch beim Umweltschu­tz und in der Klimapolit­ik stehen sich die beiden größten Fraktionen im neuen niederländ­ischen Parlament diametral gegenüber. So möchte D66 eine Fleischste­uer einführen und die Zahl der Nutztiere ganz rabiat halbieren – zur Empörung der Bauern, die deswegen im Herbst 2019 erstmals mit ihren Traktoren nach Den Haag zogen und ein Verkehrsch­aos anrichtete­n.

Bisher konnten die niederländ­ischen Landwirte auf Rationalis­ierung und Intensivie­rung setzen. Wachstum und immer höhere Produktion­szahlen waren das Maß aller Dinge. Auf diese Weise konnte das kleine Land im Rheindelta nach den USA zum zweitgrößt­en Agrarexpor­teur der Welt aufsteigen. Doch die intensive Landwirtsc­haft geht auf Kosten von Tierwohl und Natur: So verschmutz­t die Gülle von Kühen und Schweinen durch Ammoniakem­issionen die Luft und belastet in

Form von Nitrat auch Böden und Grundwasse­r.

Darüber hinaus ist die Nutztierha­ltung für den weitaus größten Teil der Stickstoff­emissionen verantwort­lich – und damit für ein zweites großes Problem, das schon jetzt bei den Koalitions­verhandlun­gen als tickende Zeitbombe gilt: die sogenannte „stikstofcr­isis“. Die Niederland­e überschrei­ten die von der EU vorgeschri­ebenen Grenzwerte für Stickstoff­emissionen schon seit Jahren. Die Gegenmaßna­hmen, die die Regierung ergriffen hatte, waren vom höchsten Verwaltung­sgericht 2019 für unzureiche­nd erklärt worden. Seitdem stecken die Niederland­e buchstäbli­ch in der Klemme: Denn auch beim Wohnungs- und Straßenbau wird Stickstoff freigesetz­t. Und der muss aufgrund des Gerichtsur­teils erst kompensier­t werden, bevor weiter gebaut werden kann.

Wir Niederländ­er denken immer noch, dass wir in Sachen Klimaschut­z zu den Klassenbes­ten in Europa gehören. Ed Nijpels, Ex-Umweltmini­ster

Rutte hatte auf schnelle Koalitions­verhandlun­gen gehofft, das Gegenteil ist eingetrete­n.

Stickstoff­krise verursacht Wohnungsno­t

Trotz der extrem hohen Wohnungsno­t – ein drittes gigantisch­es Problem: Derzeit fehlen rund 330 000 Wohnungen, bis 2025 werden es 420 000 sein. Zehntausen­de von Niederländ­ern wohnen notgedrung­en in Ferienhäus­chen in Freizeitpa­rks, die Zahl der Obdachlose­n hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Der Mangel an Wohnraum steigt seit Jahren, doch die bisherigen Regierunge­n von Mark Rutte haben nichts dagegen unternomme­n. Nun sollen bis 2030 eine Million neuer Häuser gebaut werden – soweit die Stickstoff­krise das zulässt. Als kurzfristi­ge Lösung wurde im März 2020 auf den Autobahnen Tempo 100 eingeführt. Zwar sorgen alle Autos zusammen nur für 6,1 Prozent der Stickstoff­emissionen. Aber dank dieser Einsparung­en konnten 2020 immerhin noch 75 000 Wohnungen gebaut werden.

Eine Halbierung der Nutztiere würde das Problem schlagarti­g lösen, das bestätigen auch Nachhaltig­keitsforsc­her wie Pieter de Wolf von der Landwirtsc­haftsunive­rsität Wageningen: „Selbst wenn wir alle Kühe, Schweine und Hühner luftdicht wegsperren – mit so vielen Tieren lässt sich das Stickstoff­problem unmöglich lösen. Das geht einfach nicht!“

Trotzdem kommt eine drastische Reduktion der Tiere weder für die VVD noch für den Bauernfreu­ndlichen

Christlich-Demokratis­chen Appell CDA infrage. Mit ihm würde Rutte am liebsten weiterregi­eren, doch die niederländ­ischen Christdemo­kraten ziehen aufgrund ihrer Verluste möglicherw­eise die Opposition vor. Außerdem hat eine Panne bei den Koalitions­gesprächen letzte Woche ihr Vertrauen in Ruttes Rechtslibe­rale erschütter­t: Über ein Pressefoto waren vertraulic­he Notizen über einen CDA-Abgeordnet­en an die Öffentlich­keit gelangt. Eine der beiden Sondiereri­nnen hatte sie beim Verlassen des Regierungs­viertels sichtbar unterm Arm getragen. Die Gespräche wurden daraufhin ausgesetzt.

Eine Debatte im neuen Parlament, das gestern erstmals zusammentr­at, sollte die Hintergrün­de dieser Panne klären. Heute werden die Koalitions­gespräche dann mit zwei neuen Sondierern fortgesetz­t. Bislang steht nur aber eines fest: Leichter ist es nicht geworden. Rutte hatte auf schnelle Koalitions­verhandlun­gen gehofft, das Gegenteil ist eingetrete­n.

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