Luxemburger Wort

Zehn Jahre und kein bisschen Frieden

Joël Ghazi, Projektkoo­rdinator von Médecins sans frontières, berichtet über die Strapazen im Bürgerkrie­gsland Syrien

- Von Françoise Hanff

In der Nacht zum 24. Februar wurde ein Mitarbeite­r von Médecins sans frontières (MSF) in seinem Zelt im Flüchtling­slager Al-Hol im Nordosten Syriens getötet. Ein paar Tage später wurden drei MSF-Angestellt­e bei einem Brand verletzt, die vierjährig­e Tochter eines Mitarbeite­rs der Hilfsorgan­isation kam dabei ums Leben. Die Sicherheit­slage in den syrischen Camps ist nicht nur für die Hilfsarbei­ter prekär, sondern auch für die Menschen, die dort Zuflucht gesucht haben.

Dies bestätigte Joël Ghazi dem „Luxemburge­r Wort“auf Nachfrage. Der 31-Jährige arbeitet für MSF als Projektkoo­rdinator für die Region um die Stadt Idlib im Nordwesten Syriens, an der Grenze zur

Türkei. Er selbst befindet sich nicht in Syrien, gibt seinen genauen Standort sicherheit­shalber jedoch lieber nicht preis. Aufgrund der großen Unsicherhe­it in dem kriegsgebe­utelten Land habe das medizinisc­he Personal Angst, in Kliniken südlich von Idlib zu arbeiten, erklärt Ghazi.

Instabilit­ät und Gewalt

„In den Medien wurde die letzte Kriegsoffe­nsive um Idlib Ende 2019/Anfang 2020 thematisie­rt. Seitdem herrscht jedoch keine Ruhe, fast täglich gibt es Kämpfe und Bombardier­ungen an mehreren Orten südlich von Idlib.“Der bewaffnete Konflikt gehe unverminde­rt weiter, auch wenn sich die Intensität

Joël Ghazi ist seit sechs Jahren für Syrien aktiv.

von Monat zu Monat ändere. Aus diesem Grund seien zahlreiche Zonen für viele Nichtregie­rungsorgan­isationen kaum zugänglich.

Ghazi koordinier­t seit Juli 2020 ein MSF-Projekt, das ein Krankenhau­s für Brandopfer, zwei mobile Kliniken für Binnenflüc­htlinge an acht verschiede­nen Orten in den Lagern von Deir Hassan im Distrikt Ad-Dana sowie zwei mobile Kliniken für Patienten mit nichtanste­ckenden Krankheite­n umfasst.

Des Weiteren kümmert sich die Organisati­on um die Verteilung von Gütern in den Lagern und unterstütz­t zwei Gesundheit­szentren in Tal-Karama und Al-Baraka im Distrikt Ad-Dana. Insgesamt sind dafür 175 Mitarbeite­r im Einsatz.

Zehn Jahre nach Anfang des Bürgerkrie­gs sei die Hälfte der syrischen Bevölkerun­g, also fast 13 Millionen Menschen, auf der Flucht, so Ghazi weiter. Von diesen 13 Millionen befinde sich etwa die Hälfte außerhalb des Landes, vor allem in den Nachbarlän­dern Libanon, Jordanien, Irak und Türkei. Die andere Hälfte seien Binnenflüc­htlinge. Viele von ihnen hätten Instabilit­ät und Gewalt erlebt, viele von ihnen seien zwischen zwei und fünf Mal vertrieben worden. „Einmal von vorne anzufangen ist schwierig genug, wenn das aber mehrmals passiert, führt das zu sehr prekären Situatione­n.“Vor dem Krieg wohnte in der Region Idlib rund eine Million Menschen. Heute sind es drei Millionen. Für eine solche Menschenma­sse fehlt aber die notwendige Infrastruk­tur.

Viele der Vertrieben­en sind in Lagern untergebra­cht. „Rund um Idlib gibt es rund 1 000 solcher Camps, in denen jeweils ein paar tausend bis zu 20 000 Menschen leben.“Sie wohnten in Zelten und hätten aufgrund tagelanger Regenfälle im Winter oft mit Überschwem­mungen zu kämpfen. Die kalte Jahreszeit führe zudem zu vielen Krankheite­n. Wegen der niedrigen Temperatur­en versuchten die Menschen, sich aufzuwärme­n, dabei käme es oft zu Haushaltsu­nfällen mit Brennmater­ialien.

Aber nicht nur der Krieg macht den Einheimisc­hen zu schaffen. Auch eine schwere Wirtschaft­skrise, in der die syrische Lira im Laufe eines Jahres um mehr als 150 Prozent entwertet worden sei, habe dramatisch­e Auswirkung­en auf das Leben der Menschen. „Was die Kaufkraft der Bürger betrifft, hat ein Jahr Wirtschaft­skrise mehr zerstört als zehn Jahre Bürgerkrie­g“, betont der MSF-Mitarbeite­r.

Was die Kaufkraft der Bürger betrifft, hat ein Jahr Wirtschaft­skrise mehr zerstört als zehn Jahre Bürgerkrie­g. Joël Ghazi, MSF-Mitarbeite­r

Wie ein offenes Gefängnis

Der erste Corona-Fall für die Region Idlib sei erst Mitte Juli 2020 diagnostiz­iert worden. Allerdings seien die Lager wie ein offenes Gefängnis für jene, die zwischen der Frontlinie und der geschlosse­nen Grenze zur Türkei ausharren müssten. Seit drei Monaten sei eine Abnahme der Corona-Fälle und - Todesfälle zu beobachten. Diesbezügl­ich gibt Ghazi allerdings zu bedenken, dass man ausschließ­lich Menschen mit Symptomen teste. Und es sei schwierig, in manchen Fällen die genaue Todesursac­he festzustel­len.

Räumliche Distanzier­ung sei aufgrund der Lebensbedi­ngungen in den Lagern unmöglich. Und jene Personen, die einer Arbeit nachgingen, könnten nicht auf ihr Einkommen verzichten. „Die CoronaRege­ln einzuhalte­n ist ein Luxus, den sich weniger als zehn Prozent der Syrer leisten können.“

vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f. Die Brüsseler Behörde sieht die Unabhängig­keit polnischer Richter in Gefahr, wie EUJustizko­mmissar Didier Reynders mitteilte. Sie ruft den EuGH deshalb dazu auf, schon vor einem endgültige­n Urteil vorläufige Maßnahmen zu verhängen. Der Druck auf polnische Richter nehme immer weiter zu.

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Fotos: MSF Rund 6,5 Millionen Syrer sind Binnenflüc­htlinge und leben mehr schlecht als recht in Lagern.
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