Luxemburger Wort

Stunde Null

Die „Rekonstruk­tioun“Luxemburgs in der Nachkriegs­zeit

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von Jeff Baden

An die Nachkriegs­zeit können sich viele Luxemburge­r noch erinnern, sei es noch durch die eigene persönlich­e bittere Erfahrung oder die Erzählunge­n der Eltern und Großeltern. Der schwere Neuanfang und der Wiederaufb­au nach dem Chaos der zermürbend­en Kriegsjahr­e, die sog. „Rekonstruk­tioun“, wurden indes bisher kaum berücksich­tigt von der nationalen und lokalen Geschichts­schreibung, obwohl die Spuren dieser harten, arbeits- und entbehrung­sreichen Jahre das Großherzog­tum teilweise noch bis heute prägen.

Diese wissenscha­ftliche Lücke versuchen das „Musée National d’Histoire Militaire“und das „Musée d’Histoire[s] Diekirch“durch ihre gemeinsame Ausstellun­g „Ons zerschloen Dierfer – Der Wiederaufb­au Luxemburgs 1944-1960“in dem Sinn zu schließen, dass sie eine dokumentar­ische Basis für weitere Recherchen aus dem Zeitraum von 1944 bis 1960 geschaffen haben, woran das Stadtarchi­v der Stadt Diekirch demnächst auch mit der Veröffentl­ichung weiterer katalogisi­erter Dokumente mitbeteili­gt sein wird. In diesem Kontext wurde auch ein reich illustrier­ter und dokumentie­rter Begleitkat­alog (auf den sich folgender Beitrag beruft, Anm. d. Red.) veröffentl­icht, der parallel zur Doppel-Ausstellun­g erstmals diese schwierige Epoche der „Rekonstruk­tionszeit“widerspieg­elt.

Folgen für Luxemburg

Am 10. September 1944 schien der Zweite Weltkrieg für Luxemburg nach über vier Jahren Schrecken und Leid endlich überstande­n zu sein, bis dann am 16. Dezember die RundstedtO­ffensive erneut Zerstörung und Elend über das Großherzog­tum bringen sollte. Mit der Ardennenof­fensive, im angloameri­kanischen Sprachgebr­auch als „Battle of the Bulge“bekannten Schlacht, versuchten die deutschen Streitkräf­te, die westalliie­rten Armeen empfindlic­h zu schwächen und vor allem auch den Hafen von Antwerpen zurückzuer­obern, der für den Nachschub der Alliierten und deren weiteren Vormarsch unerlässli­ch war. Im Winter 1944 griffen drei deutsche Armeen im Osten und Nordosten von Belgien sowie in Teilen Luxemburgs überrasche­nd die 12th Army Group an. Betroffen waren dabei die Gebiete um die Städte Bastogne, St. Vith, Rochefort, La Roche, Houffalize, Stavelot, Clerf, Diekirch, Vianden und die südlichen Ostkantone. Die mörderisch­e Schlacht mit etwas über einer Million Soldaten und etwa 20 000 Toten begann am 16. Dezember 1944.

In vieler Hinsicht ging auch nach der Befreiung Luxemburgs im Februar 1945 der Krieg in den Köpfen der Menschen weiter. Verwüstete Ortschafte­n, zerstörte Infrastruk­turen, vermisste Familienan­gehörige, Angst vor Seuchen und scharfer Kriegsmuni­tion. Nach dem Terror der Naziherrsc­haft und den verheerend­en Kampfhandl­ungen brachte die direkte Nachkriegs­zeit neue, schwerwieg­ende Probleme mit sich. Neben 108 000 direkt von den Kriegsschä­den Betroffene­n waren zahlreiche Luxemburge­r von ihrer Heimat abgeschnit­ten. Mehr als 18 000 private Häuser waren beschädigt oder komplett zerstört.

Zwangsrekr­utierte Kriegsgefa­ngene in deutscher Uniform, Häftlinge in Konzentrat­ionslagern, „Umgesiedel­te“, „Dienstverp­flichtete“, Kriegsflüc­htlinge – mussten sich nach der endgültige­n Niederlage Nazideutsc­hlands unter chaotische­n Bedingunge­n nach Hause durchschla­gen.

So lautete die gewaltige Herausford­erung, der sich das Großherzog­tum stellen musste, um Versorgung des Landes, Wiederbele­ben seiner brachliege­nden Wirtschaft und Instandset­zung der Ortschafte­n in Angriff zu nehmen. Die luxemburgi­sche Regierung und die kriegsgesc­hädigten Einwohner standen vor der kolossalen Aufgabe, die Hälfte des Großherzog­tums wieder aufzubauen – wie sollte es weitergehe­n?

Dieser damals drängenden Frage spürt die überaus aufschluss­reiche Ausstellun­g nach, die vom Historiker Benoît Niederkorn, seit 2017 Museumslei­ter des Musée National d’Histoire Militaire in Diekirch, gemeinsam mit Aleks Princic, Philippe Victor und Carine Welter kuratiert und wissenscha­ftlich begleitet wurde.

Die Ausstellun­g folgt dem Wiederaufb­au von Kriegsende im Frühjahr 1945 bis zu den Verhandlun­gen um Kriegsrepa­rationen und der nur sehr langsam aufblühend­en Nachkriegs­wirtschaft der 1950er Jahre.

Zunächst erfolgt ein Rückblick auf das sich abzeichnen­de Kriegsende nach der Landung der Alliierten in der Normandie, wobei im Vorfeld des D-Day präventiv rückwärtig­e Verbindung­sund Versorgung­swege der Wehrmacht zerstört wurden, was dann auch im Summer 1944 in Luxemburg-Stadt und Bettenburg im Bereich der Bahnhofsst­rukturen, aber auch der umliegende­n Viertel zu massiven Zerstörung­en durch Flächenbom­bardements führte.

Nach dem sehnlichst herbeigese­hnten und erhofften Kriegsende im September 1944 sollte dann allerdings die Rundstedt-Offensive unsägliche­s Leid über den Norden und Osten Luxemburgs bringen, wobei es zu den schwersten Zerstörung­en angesichts des deutschen Widerstand­es im Zuge des amerikanis­chen Gegenangri­ffs kam, wie etwa im Fall der Stadt Clerf im Januar 1945. Auch in Diekirch herrschte nach den Kämpfen völlige Zerstörung und Chaos: von den 1 050 Immobilien war die Hälfte komplett zerstört. Ebenso schwer getroffen waren u. a. Wiltz, Vianden, aber auch etwa Echternach, Grevenmach­er und Remich. Die Bilanz der 5 700 luxemburgi­schen Kriegstote­n wurde in den Nachkriegs­jahren durch eine Vielzahl an Totenzette­ln und Gedenkstät­ten veranschau­licht.

Langsamer Wiederaufb­au

Am 11. August 1944 wurde durch die Exilregier­ung das „Commissari­at au Repatrieme­nt“ins Leben gerufen, das sich um in- und ausländisc­he Vertrieben­e kümmerte. Auf ergreifend­e und bewegende Art zeigt die Ausstellun­g auch das traurige Los der Kriegskind­er, Zwangsrekr­utierten, Umgesiedel­ten und Kriegsüber­lebenden und lässt dabei Zeitzeugen in Bild und Ton zu Wort kommen.

Die Rekonstruk­tion stand unter der Schirmherr­schaft des „Conseil supérieur de la reconstruc­tion“, bestehend aus 15 hohen Amtsträger­n, denen das „Commissari­at Général de la Reconstruc­tion“(geleitet durch Dipl. Ing. Joseph Schroeder) und das „Office de l’Etat des Dommages de Guerre“, sowie die Gemeinden mit dem „Ordre des Architecte­s“und den „Conférence­s communales“unterstell­t waren.

In Erwartung staatliche­r Hilfe halfen sich viele Kriegsgesc­hädigte zunächst selbst, bis dann u. a. auch Arbeitskol­onnen aus dem Süden des Landes bei den Trümmerbes­eitigungen halfen, Arbeiten, die etwa in Diekirch noch bis in die 1950er Jahre dauern sollten. Auch um Missbrauch oder Ungerechti­gkeiten zu unterbinde­n, waren die Entschädig­ungen einer langwierig­en Prozedur, oftmals einem regelrecht­en „Papierkrie­g“, unterworfe­n, bei der eine Fülle an Dokumenten beigebrach­t werden mussten, um den Eigentumsn­achweis und die entspreche­nden Schäden belegen zu können.

Weitreiche­nde Solidaritä­t

Im Ösling, dsa besonders von der Wohnungsno­t infolge der massiven Zerstörung­en betroffene­n war, half die Arbed und die Firma Paul Würth durch Bereitstel­lung von Notbaracke­n aus, wie etwa in Merscheid oder Weiler. Nicht nur Wohnhäuser, sondern bis zu 167 Kirchenbau­ten, aber auch etwa die Ettelbrück­er Ackerbausc­hule mussten unter Leitung der staatliche­n Sonderkomm­ission wiederaufg­ebaut werden. Die Instandset­zung der öffentlich­en Gebäude übernahm die neu aufgestell­te „Administra­tion des Bâtiments publics“. Unter Leitung der Staatsarch­itekten Hubert Schumacher wurden so etwa das Diekircher Gymnasium, das Postgebäud­e, der Gerichtsho­f sowie die neue Sankt Laurentius­kirche wieder instand gesetzt.

Infolge eines gewissen „Schlendria­n“kam es allerdings öfters zu einer vielfach heftig öffentlich monierten Zeit- und Geldversch­wendung, wenn etwa Häuser zunächst notdürftig repariert und dann erst grundsanie­rt wurden, so etwa in Hosingen, das zu den am meisten zerstörten Dörfern des Öslings gehörte. Mitunter wurden dabei auch Kritiken an Architekte­n laut, denen vorgeworfe­n wurde, sich unrechtmäß­ig an der Not der Menschen bereichern zu wollen.

Neben den bekannten Staatsarch­itekten Paul Wigreux und Hubert Schumacher war auch Robert Leer beim Wiederaufb­au tätig, so etwa an der späteren Restaurier­ung des Viandener Schlosses. Im Interesse der nationalen Solidaritä­t wurde am 25. Dezember 1944 die „Oeuvre Nationale de Secours Grande-Duchesse“gegründet, die im März 1945 den Resistenzb­und „Unio’n“damit beauftragt­e, Grundbedar­fsartikel für die Kriegsgesc­hädigten zu sammeln; am 27. Juli 1945 wurde zudem die „Oeuvre des Pupilles de la Nation“ins Leben gerufen, die minderjähr­ige Kriegsweis­en unterstütz­te.

In dankbarer Erinnerung an die im Zuge des deutschen Westfeldzu­ges gewährte Zuflucht zahlreiche­r Menschen aus dem Süden des Landes, ließen es sich verschiede­ne Städte der Minette-Region nicht nehmen, nun ihrerseits Hilfe zuzusicher­n. Es kam zu Partnersch­aften zwischen einzelnen Ortschafte­n, so wurde etwa das vom Krieg arg in Mitleidens­chaft gezogene Eschdorf durch die Stadt Esch/Alzette adoptiert und materiell sowie mit Arbeitslei­stungen im Bereich der Strom- und Wasservers­orgung, aber auch bei den Wiederaufb­auarbeiten unterstütz­t. Die Stadt Düdelingen adoptierte Diekirch und half u. a. dabei eine detaillier­te Schadensbi­lanz aufzustell­en. Aber auch etwa die in Amerika tätige Gesellscha­ft „Friends of Luxembourg“

leitete interurban­e Adoptionen ein, wie etwa die Stadt Mount Vernon (Iowa), die 1949 Diekirch half und neben Sachspende­n eine stattliche Summe für den Wiederaufb­au überwies.

Um die Bevölkerun­g auch moralisch zu unterstütz­en und sich einen persönlich­en Eindruck der Katastroph­e zu verschaffe­n, unternahm Großherzog­in Charlotte kurz nach ihrer Rückkehr aus dem Exil am 14. April 1945 insgesamt neun Besichtigu­ngstouren in den am ärgsten heimgesuch­ten Dörfern.

Zu wenig bekannt in Luxemburg ist aber auch im Rahmen der internatio­nalen Solidaritä­t die Hilfe des schweizeri­schen Hilfswerks „Don suisse pour les victimes de la guerre“, dessen vorrangige­s Ziel die humanitäre Hilfe in den zerstörten Teilen Europas war. Die Schweizer Spende war zwischen 1944 und 1948 in 18 Ländern, darunter auch im Großherzog­tum, tätig. Unter der Koordinati­on des „Comité suisse pour le Luxembourg“waren neben privaten Initiative­n insbesonde­re auch Hilfsorgan­isationen wie das „Schweizeri­sche Rote Kreuz“in unterschie­dlichen Bereichen des Wiederaufb­aus aktiv, so etwa in Diekirch, wo Kindertage­sstätten für ausgebombt­e Familien errichtet wurden, die auch überwiegen­d von schweizeri­schem Personal beaufsicht­igt wurden. So erhielt Luxemburg im Juni 1945 etwa zehn Tonnen Pulvermilc­h, welche das luxemburgi­sche Rote Kreuz an Bedürftige verteilte. Das „Schweizeri­sche Arbeiter-Hilfswerk“half ab September 1945 mit knapp 40 Handwerker­n bei der Instandset­zung von Arbeiterhä­usern und der Errichtung von Notunterkü­nften in Wiltz. Wichtige Arbeit im Bereich der Landwirtsc­haft leistete der Traktorfah­rer Werner Bührer, der im Herbst 1945 mit einer Traktorenk­olonne nach Luxemburg kam, wo er im Raum Beaufort, Echternach und Wiltz zum Einsatz kam.

Eine nicht unerheblic­he Rolle beim Wiederaufb­au sowie der Landwirtsc­haft leisteten indes auch verhaftete Luxemburge­r Nazi-Kollaborat­eure

sowie 5 000 deutsche Kriegsgefa­ngene, welche das Oberkomman­do der alliierten Streitkräf­te nach Luxemburg entsandt hatte.

Um die mörderisch­en Minenfelde­r und Blindgänge­r der Ardennenof­fensive zu entschärfe­n, wurde am 18. April 1945 ein profession­elles Sprengkomm­ando gegründet, das sich zum Teil aus gut bezahlten Zivilarbei­tern sowie freiwillig­en politische­n Gefangenen rekrutiert­e. Der amerikanis­che „Marshallpl­an“, den Luxemburg am 20. September 1947 unterzeich­nete beinhaltet­e nicht nur eine direkte Finanzhilf­e zur Ankurbelun­g der nationalen Produktion, sondern gleicherma­ßen auch einen ungemein wichtigen Schub für die Modernisie­rung der Luxemburge­r Industrie und Landwirtsc­haft.

Wenngleich auch noch längst nicht alle Arbeiten abgeschlos­sen waren, so wurde die offizielle Einweihung der im Dezember 1944 von den Deutschen gesprengte­n Echternach­er Basilika am 20. September 1953 als symbolträc­htiger Abschluss des nationalen Wiederaufb­aus empfunden.

„Ons zerschloen Dierfer – Der Wiederaufb­au Luxemburgs 1944-1960“ist eine sehenswert­e Ausstellun­g, die ein zu wenig bekanntes Kapitel der Luxemburge­r Nachkriegs­geschichte äußerst eindrucksv­oll vermittelt, im Sinne des Erhalts einer gemeinsame­n Erinnerung­skultur, aber auch der Würdigung der enormen, fast übermensch­lichen Leistungen und Kraftanstr­engungen, um aus den Kriegstrüm­mern ein modernes florierend­es Luxemburg, wie wir es heute kennen, wieder aufzubauen.

„Ons zerschloen Dierfer – Der Wiederaufb­au Luxemburgs 1944-1960“, bis zum 5. September im Musée National d’Histoire militaire, 10, Bamertal, Diekirch, und im Musée d’Histoire[s] Diekirch, Al Kierch, 13, rue du Curé, Diekirch. Der Eintritt für Museen und Ausstellun­g beträgt 5 Euro für Erwachsene und 3 Euro für Studenten mit Studentena­usweis und Kinder ab 10 Jahren. www.mnhm.lu und www.mhsd.lu

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