Der rote Judas
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„Wollte mich stellen, frag bei Josephine König, Salomonstraße 7 …“Der Weißhaarige beugte sein Ohr an seine Lippen. „Ich hab nicht geschossen …, Joseph hat geschossen …, der einarmige Satan hat …“
Die Stimme erstarb ihm auf den Lippen, die Sinne schwanden ihm, der Asphalt unter ihm schwankte, und der Mann über ihm schwankte auch. Alles schwankte plötzlich, und alles drehte sich, die ganze Welt – sie drehte sich weg von ihm und ließ ihn mutterseelenallein in kalter Finsternis zurück.
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Das Kätzchen hüpfte aus seinem Körbchen und sprang maunzend auf ihn zu. Stainer warf seine Zeitungen und das Kuvert auf den Tisch und stellte die Cognacflasche daneben. Es ging auf halb eins zu. Er nahm die kleine Eule hoch, drückte sie an seine Brust und streichelte sie. Seine Nerven vibrierten, das Herz klopfte ihm in der Kehle, und der Kloß im Hals ließ sich noch immer nicht herunterschlucken: Er hatte einen Mann erschossen, jünger als er selbst. Im Herbst 16, im französischen Gefangenenlazarett, hatte er oft an den letzten Engländer denken müssen, den er getötet hatte, einen flaumbärtigen Maschinengewehrschützen
von kaum zwanzig Jahren. Damals hatte er sich geschworen, nie mehr auf einen Menschen zu schießen.
Nun war er wieder Polizist, und einem schießwütigen Verbrecher wie dem, der jetzt mit seiner Kugel im Kopf in der Pathologie lag, würde auch ein Jiu-Jitsu-Meister wie er nicht ohne Pistole beikommen können. Heute Abend vor dem Alten Johannisfriedhof nicht und auch in Zukunft nicht. Stainer hatte sein Auge getroffen; der Mann war sofort tot gewesen.
Er öffnete das Fenster, um die Milch hereinzuholen, und füllte den Napf für das Kätzchen. Das rieb sich schnurrend gegen seine Hand und tauchte schließlich das Näschen in die Milch.
Am Tisch entkorkte Stainer die Flasche, füllte ein Wasserglas zur Hälfte mit Cognac und trank den ersten Schluck im Stehen. Grundfalsch, er wusste es, doch das Giftzeug beruhigte ihn. Am Garderobenständer neben seiner Wohnungstür legte er Mantel und Hut ab. Bevor er sich an den Tisch setzte, zündete er sich eine Salem an.
Von Thonberg aus, wo sie Heiland gefunden hatten, war er in die Wächterburg gefahren, um das Kuvert aus der Weingarten-Villa mit nach Hause zu nehmen. Kupfer hatte es in seinem Schreibtisch eingeschlossen. Es war dicker, als Stainer erwartet hatte.
Er holte einen Stapel mit Maschine beschriebener Blätter heraus, dazu gut drei Dutzend Fotos und einige Dokumente mit dem Briefkopf der Reichswehr. Stainer beugte sich über die Unterlagen und vergaß seinen ersten Toten nach vier Jahren, vergaß den schwer verletzten Max Heiland, vergaß Junghans, Kupfer und Heinze, die er mit der Spurensicherung und den Berichten für Kubitz und Kasimir beauftragt hatte.
Die Fotos stammten wohl von mehreren Fotografen, denn in Format und Qualität wichen sie voneinander ab, teilweise stark. Viele zeigten deutsche Soldaten in Schützengräben, auf Truppentransportern und vor beschlagnahmten Rathäusern und Schlössern. Einige zeigten zerschossene Straßenzüge und brennende Ruinen. Auf den Rückseiten las Stainer die Namen belgischer Städte und Dörfer – Löwen, Dinant, Aerschot, Andenne – und die Daten der Aufnahmen. Fast alle waren Ende August 1914 entstanden.
Auf zwei großen Fotos ragten schwarze, halb zerstörte Arkaden aus qualmenden Trümmerhaufen. Brandruine der Universitätsbibliothek Löwen am 25. Aug. 1914, las Stainer auf beiden Rückseiten, tausend Handschriften aus dem Mittelalter, 300 000 Bücher – unwiderruflich verloren!! Und in einer anderen, leichter zu lesenden Schrift: Erhalten von F. Jagoda per Post, Leipzig, Juli 1919. H.B.
Die Kreise schließen sich, dachte Stainer, denn sofort erinnerte er sich an den Brief des Reichsgerichts in der Akte Jagoda und an den Betreff, den Heinze ihm vorgelesen hatte: Löwen, 25. August 1914. Sollte der Gymnasialprofessor vom Reichsanwalt wegen des Brandes der Löwener Bibliothek angehört werden? Doch warum? Und hatte Baumann ihn wegen der Zerstörung Löwens treffen wollen? Stainer war gespannt, welche Überraschungen Baumanns Unterlagen noch für ihn bereithielten.
Eines der Fotos zeigte einen Unteroffizier auf einem Bauernhof neben einem Toten, dessen nackte Füße in den Vordergrund ragten. Der Unteroffizier hatte den Gewehrkolben und seinen rechten Stiefel auf die Brust des Toten gesetzt und guckte mit unbewegter Miene in die Linse. Im Hintergrund sah man Hühner und ein Schwein. Stainer nahm einen Schluck Cognac und drehte das Foto um. Feldwebel Joseph Tilger auf einem Gutshof bei Dinant, las er, 26. August 1914, siehe Notizen und Dokumente im Hauptarchiv.
„Joseph mit der schwarzen Ledermütze“, murmelte er. War dieser Feldwebel derselbe Joseph, den Heiland in seinem hingekritzelten Brief genannt hatte? Das Kätzchen maunzte und kletterte auf sein Knie. Stainer setze es auf seine Schulter und schaute die Fotos durch. Auf knapp zehn Aufnahmen waren Soldaten abgelichtet, die auf der Rückseite mit Ort und Datum namentlich genannt waren. Stainer legte diese Bilder auf einen gesonderten Stapel.
Eines zeigte einen hohen Offizier mit buschigem Schnauzbart vor einem Schlösschen. Regimentskommandeur Oberst Richard von Braun, las Stainer auf der Rückseite, vor seinem Hauptquartier bei Löwen, 30. August 1914, siehe Notizen und Dokumente im Hauptarchiv.
Ein kleinformatiges Foto war mit einer Büroklammer an einem Briefbogen befestigt. Stainer vergaß zu atmen, während er den Offizier darauf betrachtete. Leutnant G. R., Aug. 1914, Löwen, stand auf der Rückseite und wieder der Zusatz: siehe Notizen und Dokumente im Hauptarchiv. Unter dem Foto, auf dem Briefbogen, die Notiz: erhalten von R. Murrmann im Sept. 1919, G. Rs. Adresse unbekannt; Fernsprechnummer Leipzig 2 94 29. H. B.
(Fortsetzung folgt)