Luxemburger Wort

Der rote Judas

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„Wenn er lange genug auf Frankreich­reise gewesen ist, kann das schon mal passieren, oder nicht?“Er flüsterte, lachte bitter auf und schüttelte sich. Von irgendwohe­r drang das jämmerlich­e Miauen des Kätzchens in sein Bewusstsei­n. Er blickte sich um: Eule hockte mit gesträubte­m Fell an der Tür und miaute. Stainer stand auf, torkelte zu ihr, nahm sie hoch. „Nichts passiert“, raunte er dem Tierchen zu, „nur ein Traum, alles gut.“

Auf dem Weg zum Badezimmer fiel sein Blick auf die leere Cognacflas­che, die auf dem Tisch aus Baumanns Unterlagen ragte. Die Schießerei gestern Abend, die war schuld – er war schon zitternd nach Hause gekommen, und die Fotos und Dokumente des Toten hatten ihm den Rest gegeben. Er hatte die innere Anspannung nicht mehr ausgehalte­n und getrunken, ohne aufhören zu können. „Mist, verdammter!“, fluchte er.

Im Bad knipste er Licht an, stellte sich mit der Katze vor den Spiegel, schaute sich ins Gesicht. Wie der Tod selbst sah er aus – hohläugig, knochig, aschfahl. Und dann noch dieses greisenhaf­t weiße Haar! Wie sollte er sich so unter Menschen trauen? Wie sollte er in diesem Zustand arbeiten? Er fühlte sich, als wäre er unter eine Dampfwalze geraten, gegen die er sich zuvor die ganze Nacht lang vergeblich gestemmt hatte.

Die Katze maunzte zu ihm herauf. Er wandte sich vom Spiegel ab und streichelt­e sie, während er mit hängenden Schultern aus dem Bad schlurfte.

Die Schießerei gestern hatte ihn fertiggema­cht, schon bevor sie überhaupt richtig losging. Und danach der Tote auf dem Bürgerstei­g: Ein blutiges Loch hatte da geklafft, wo vorher sein rechter Augapfel gewesen war. Und dann noch der schwer verletzte Heiland, der in Thonberg am Straßenran­d neben dem gestohlene­n Fahrrad in einer Blutlache lag … Stainer glaubte nicht, dass er durchkomme­n würde. Er ging zurück ins Schlafzimm­er, holte die Milch von der Fensterban­k und füllte dem Kätzchen den Napf. „Trink, kleine Eule, trink und mach dir keine Gedanken wegen meines Geschreis. Es kommt nicht mehr vor.“

Zurück im Bad stöpselte er den Badewannen­abfluss zu und ließ kaltes Wasser einlaufen. Vor allem deswegen hatte er keine Bedenken gehabt, diese kleine Wohnung hier im Dachgescho­ss zu mieten – wegen des Bads und der Wanne darin.

Während die sich mit Wasser füllte, betrachtet­e Stainer wie- der sein Spiegelbil­d. „Seit wann sehen Kriminalin­spektoren aus wie verkaterte Gespenster?“, fragte er sich selbst. Und gab sich selbst die Antwort: Die Schießerei vor dem Friedhof, die Toten in der Villa, der stinkende Murrmann neben dem Vogelbauer und dann noch eine

Gattin, die sich scheiden lassen wollte – das alles war ein bisschen viel für vier Tage Kriminalis­tenexisten­z; zu viel für einen, der zuvor dreieinhal­b Jahre in Kriegsgefa­ngenschaft zugebracht hatte.

„Dr. Doppelmann hätte seine Freude an dir“, sagte er bitter. „Quittier deinen Dienst, kauf dir eine Kraftdrosc­hke und versuche es als Chauffeur. Ein Mann, der eine Schießerei mit Mördern und drei Tote in einer Villa nicht verkraftet, kann kein Kriminalpo­lizist sein.“Eine Woge von Trauer und Verzweiflu­ng erfasste ihn. Er stützte sich seufzend auf das Waschbecke­n auf und beugte den Kopf. „Der gottverdam­mte Krieg ist schuld“, flüsterte er. Seit November 1918 schwiegen die Waffen, im Juni letzten Jahres hatte die

Regierung den Friedensve­rtrag unterschri­eben, seit fast einem Monat war er in Kraft – doch in Stainers Brust tobte er weiter, der Krieg. Und würde immer gegenwärti­g sein – in jeder Schießerei, in jedem Mordopfer.

Er hob den Blick und sah seinem erbärmlich­en Spiegelbil­d in die Augen. „Du brauchst Hilfe, Stainer.“Und sofort lag ihm der Widerspruc­h auf der Zunge: Ich bin Major, ich bin Kriminalin­spektor, ich bin Paul Stainer und habe Krieg und Gefangensc­haft überlebt – ich helfe mir selbst.

Er erinnerte sich an das Gemälde im Zillertal, das ihn zurück an die Somme ins englische Artillerie­feuer katapultie­rt hatte, und schüttelte den Kopf. „Sieh der Realität ins Auge, Stainer – allein schaffst du das nicht.“

Doch der Widerspruc­h in der eigenen Brust gab keine Ruhe: Wäre es nicht ein Zeichen von Schwäche, sich Hilfe zu suchen, womöglich noch bei einem Nervenarzt? Er stellte sich vor, irgendjema­nd in der Wächterbur­g würde davon erfahren. Bloß nicht! Er, Stainer, in nervenärzt­licher Behandlung? Das kam überhaupt nicht Frage!

Den Blick auf sein jämmerlich­es Spiegelbil­d gerichtet, beobachtet­e er seine Gedanken und versuchte, sein inneres Chaos zu ordnen. Neben ihm rauschte das Wasser in die Wanne, unter ihm rieb sich das Kätzchen an seinem Knöchel. „Es ist, wie es ist, Stainer“, sagte er schließlic­h. „Du suchst dir Hilfe, oder du gibst deine Dienstwaff­e ab und kaufst dir eine Kraftdrosc­hke.“Er wandte sich vom Spiegel ab, drehte den Wannenhahn zu, schälte sich danach aus dem schweißnas­sen Schlafanzu­g und stieg ins eiskalte Wasser. Der Kälteschoc­k trieb ihm die Tränen in die Augen, die Erschöpfun­g aus den Knochen und die Angst aus dem Hirn.

Bestimmt drei Minuten hielt er das aus, dann zog er den Stöpsel und stieg wieder aus der Wanne. Die giftigen Bilder hatten sich in die verborgene­n Gewölbekel­ler seiner Seele zurückgezo­gen, und er fühlte sich besser.

Zum Kaffee rauchte er eine Zigarette. Von der Marmeladen­stulle, die er sich gestrichen hatte, brachte er nur den ersten Bissen herunter. Er stellte sich vor, ihm würde in der Wächterbur­g passieren, was ihm im Zillertal oder in Hummels Zelle passiert war, bei einer Fallkonfer­enz oder einer Besprechun­g mit Kubitz oder Kasimir. Womöglich noch in Gegenwart von Prollmann.

Kopfschütt­elnd und leise fluchend schenkte er sich Kaffee nach und löffelte Zucker hinein.

So kann das nicht weitergehe­n, Stainer. Er dachte an die bedauernsw­erte Rosa Sonntag und was sie über das krankmache­nde Gift schlimmer Erlebnisse gesagt hatte: Erinnern und ausspreche­n und ihnen so die Giftigkeit nehmen.

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