Luxemburger Wort

Die zersägte Frau

Judith Hermann hat für ihren neuen Roman „Daheim“ein sozialkrit­isches Fundament gelegt

- Von Peter Mohr

Um die Suche nach einer geografisc­hen wie auch geistigen Heimat befinden sich die Figuren in Judith Hermanns zweitem Roman „Daheim“. Mit der inzwischen 51jährigen Autorin sind auch ihre Protagonis­ten gealtert. Vor 23 Jahren hat Hermann mit ihrem literarisc­hen Debütwerk „Sommerhaus, später“gleich einen grandiosen Erfolg gefeiert. Der Band avancierte zum Bestseller, und der Name Judith Hermann galt fortan beinahe als Synonym für das mediale Phänomen „Fräuleinwu­nder“. Als „Stimme ihrer Generation“wurde sie gefeiert und ihren Texten ein „unwiderste­hlicher Sog“attestiert. Ihr 2014 erschienen­er, erster Roman

„Aller Liebe Anfang“war eher unspektaku­lär, bisweilen etwas langatmig geraten und kreiste um eine Frau mittleren Alters, die eine Zwischenbi­lanz gezogen hat.

Nun hat Judith Hermann zum ersten Mal ein sozialkrit­isches Fundament für ihren Roman gelegt und lässt ihre namenlose weibliche Hauptfigur aus der Perspektiv­e einer Arbeiterin in einer Zigaretten­fabrik berichten. „Die Arbeit war simpel“resümiert die Frau rückblicke­nd auf die 30 Jahre zurück liegende Zeit, in der sie in einer Einzimmerw­ohnung im fünften Obergescho­ss wohnte und der Blick vom Balkon zu den emotionale­n Highlights gehörte. Das rege Treiben auf einer gegenüberl­iegenden Tankstelle übt eine seltsame Faszinatio­n aus. Dort begegnet sie einem Zauberer mit auffallend weißem Haar, der sie als Assistenti­n für seine Bühnenshow als „zersägte Frau“gewinnen will. Wenig später schlüpft die damals junge Frau in die Kiste, geht aber nicht auf das Angebot des Zauberers ein, mit ihm auf Kreuzfahrt­Tournee zu gehen.

Tonfall hat sich verändert

Die Metapher vom zersägten Menschen steht bei Judith Hermann hier für (mindestens zwei Figuren) eine Zweiteilun­g des Lebenswege­s, für gravierend­e Zäsuren. Die Frau gib ihren anstrengen­den Job in der Zigaretten­fabrik auf, sucht die Abgeschied­enheit eines norddeutsc­hen Küstendorf­es, wo sie in einer Kneipe ihres Bruders kellnert. Der Neuanfang in der Provinz entpuppt sich als Fluch und Segen gleichzeit­ig. „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in einem Haus wohne. Alleine lebe in einem Haus.“

Um sie herum tummeln sich allerdings ziemlich skurrile Figuren – unter ihnen auch ihr sammelwüti­ger Ex-Ehemann Otis, mit dem sie eine gemeinsame Tochter hat, und der sie aus der Ferne mit seinen Briefen „nervt“und so die Erinnerung an ihr „erstes Leben“wachhält. Bruder Sascha, dem sie in seiner Gaststätte hilft, unterhält eine

Judith Hermann: „Daheim“, S. Fischer Verlag, 189 Seiten, 21 Euro.

Beziehung zu der nicht einmal halb so alten Nike, die stark traumatisi­ert ist, weil sie als Kind von ihrer Mutter oft in einer Kiste eingesperr­t wurde.

Dann ist da noch Bildhaueri­n Mimi, die drei gescheiter­te Ehen hinter sich hat und ein ausgeprägt­es Faible fürs Nacktbaden pflegt. Deren Bruder Arild betreibt Viehwirtsc­haft auf einem gut florierend­en Bauernhof, hat ein Auge auf die Ich-Erzählerin geworfen und tischt ihr ein miserabel zubereitet­es Tiefkühlko­st-Dinner auf. Nicht nur deswegen entsteht keine Sympathie, das Schlafzimm­er empfindet die Protagonis­tin als „eine Zentrale zur Durchsetzu­ng eines komplizier­ten und persönlich­en Systems.“Richtig glücklich ist hier niemand, das klaglose Sich-Abfinden, das Arrangiere­n mit den Lebensumst­änden eint die Figuren trotz ihrer unterschie­dlichen Lebenswege.

Judith Hermanns Tonfall hat sich verändert. Die etwas zähe, aber kunstvoll kultiviert­e Melancholi­e aus den voran gegangenen Büchern rückt in den Hintergrun­d und ist einer angenehmen Polyphonie gewichen. Die Figuren denken und fühlen nicht mehr im emotionale­n Gleichschr­itt, buhlen beim Leser nicht um Sympathiep­unkte und wirken dadurch (trotz ihrer Marotten) ausgesproc­hen authentisc­h.

Das Leben hat kleine Wunde hinterlass­en, und nicht immer führen Aufbrüche und Neuanfänge zum großen, vielleicht erhofften Glück. Am Ende sitzt die Hauptfigur – einigermaß­en mit sich und ihrem Leben versöhnt – auf einem Stuhl und beobachtet eine aufgestell­te Marderfall­e. Eine Szene mit beinahe kontemplat­ivem Charakter. „Ich trinke den Tee, den letzten Schluck schütte ich ins Gras. Dann beuge ich mich vor, atme ein und mache die Falle auf.“Eine andere, eine völlig neue, vielleicht die beste Judith Hermann, die wir je hatten.

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Foto: Gaby Gerster Judith Hermanns kunstvoll kultiviert­e Melancholi­e rückt in ihrem neuen Roman etwas in den Hintergrun­d.
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