Luxemburger Wort

Der fragile Frieden

In Nordirland leben Katholiken und Protestant­en nebeneinan­der und doch weit voneinande­r entfernt

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Eigentlich sollte es für Stephen Gough aus Belfast ein Jahr zum Feiern werden. 100 Jahre ist es her, dass Nordirland sich vom Rest der irischen Insel teilte. Als überzeugte­r Unionist ist Gough stolz darauf, dass Nordirland nun schon ein ganzes Jahrhunder­t lang seinen Platz als eigenständ­ige Provinz im Vereinigte­n Königreich behalten hat. „Das ist etwas, wofür wir hart gearbeitet haben. Es bedeutet mir sehr viel“, erzählt der 60-Jährige.

Vor 100 Jahren, am 7. Juni 1921, kam in Belfast erstmalig das Parlament zusammen. Doch ausgerechn­et im Jubiläumsj­ahr sind die Spannungen in der Region, in der jahrzehnte­lang ein blutiger Bürgerkrie­g zwischen Katholiken und Protestant­en wütete, so spürbar wie lange nicht mehr.

„Es gibt einen signifikan­ten Teil der Bevölkerun­g, der das Jubiläum nicht feiern will. Das müssen wir respektier­en“, sagt Gough. Das katholisch-republikan­ische Lager wünscht sich eine Wiedervere­inigung mit Irland und sieht deshalb keinen Grund zum Feiern. Große Veranstalt­ungen waren durch die Pandemie bislang ohnehin nicht möglich. Doch Gough hofft darauf, zumindest im Spätsommer noch mit Banner bei einer Jubiläumsp­arade durch die Straßen zu ziehen.

So richtig in Feierlaune wirkt der Beamte allerdings nicht, wenn man ihm eine Weile zuhört. „Das Problem ist das Protokoll“, empört er sich. Damit meint Gough das sogenannte Nordirland-Protokoll.

Es ist der Kompromiss, auf den sich Brüssel und London in ihrem BrexitDeal geeinigt haben, um eine harte EUAußengre­nze zwischen Irland und Nordirland zu vermeiden. Nordirland hat dadurch seit dem Brexit einen Sonderstat­us: Als Teil des Vereinigte­n Königreich­s ist es zwar mit aus der Europäisch­en Union ausgetrete­n, folgt aber trotzdem weiterhin den Regeln des EUBinnenma­rkts. Die neuen Kontrollen und Formalität­en beim Warenhande­l finden daher nicht an der inneririsc­hen Grenze statt, sondern in der Irischen See zwischen Nordirland und Großbritan­nien.

Über die Köpfe der Nordiren hinweg „Das ist einfach falsch, denn am Ende des Tages sind wir ein Land“, empört sich Gough. Das Wort „ein“betont er. „Und als ein Land haben wir auch für den Austritt aus der EU gestimmt.“Wie viele der meist protestant­ischen Unionisten fürchtet er, dass die neuen Hürden in der Irischen See die Position Nordirland­s im Königreich schwächen könnten. Derzeit verhandeln Brüssel und London – meist über den Kopf der Nordiren hinweg – über die Details der neuen Regeln. Viele vor Ort sind frustriert, fühlen sich nicht gehört und würden das Protokoll am liebsten abschaffen, bevor es überhaupt richtig in Kraft getreten ist.

Vor einigen Wochen entlud sich dieser Frust gewaltsam. Mehrere Nächte in Folge loderten Flammen auf den Straßen, etliche Menschen wurden verletzt. Nicht nur die Brexit-Folgen, auch Kritik an der Polizei und die Spuren der Pandemie hatten ihren Anteil. Vor allem in unionistis­chen Vierteln schmissen Jugendlich­e Steine und Flaschen auf die Polizei, setzten Autos und sogar einen Bus in Brand und brachten ihre Heimat weltweit mit Bildern der Zerstörung in die Nachrichte­n.

Die 34-jährige Rhonda Wooler will Szenen wie diesen, die an die blutigen

Bürgerkrie­gsjahre erinnern, mit ihrer Arbeit entgegenwi­rken. Die gebürtige Nordirin fühlt sich keinem Lager zugehörig und sieht sich deshalb als perfekte Vermittler­in. Mit ihrem Team hat die Sozialarbe­iterin in Londonderr­y, das von Katholiken nur Derry genannt wird, in einer einst besonders umkämpften Nachbarsch­aft in den vergangene­n Jahren realisiert, was viele nicht für möglich hielten: Mehr als 500 Unionisten und Republikan­er kamen 2018 zu einer Weihnachts­feier zusammen – nachdem Kritiker Wooler erst vorwarfen, damit das ganze Weihnachts­fest zu ruinieren.

Die Kinder spielen zusammen

Auch das erste Sommercamp mit mehreren Hundert Kindern aus beiden Communitie­s fand im „Waterside Shared Village“statt, in dem Wooler als Projektman­agerin arbeitet. Katholisch­e und protestant­ische Kinder spielten zusammen, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie bedeutsam es ist, mit dem Bus morgens in ein anderes Viertel zu fahren. „Nur die Erwachsene­n haben gesagt „Oh mein Gott, das ist noch nie passiert. Das ist, wie es eigentlich sein sollte““, erzählt Wooler.

Weiter südöstlich in Nordirland, in Warrenpoin­t nahe der irisch-nordirisch­en Grenze, arbeitet Brian Reid. Der Chef der Lebensmitt­elfirma Deli Lites, die abgepackte Sandwiches und Burritos verkauft und exportiert, kann von seinem Büro aus sogar bis zur Republik Irland schauen. „Wir haben 25 Autos, die jeden Morgen über die Grenze fahren und Waren nach Dublin bringen“, erzählt er. „Als das erste Mal vom Brexit die Rede war, waren wir sehr besorgt.“

Genau hier lag lange Zeit der endlos diskutiert­e Knackpunkt in den BrexitVerh­andlungen. Eine neue harte Grenze galt als politische Eskalation mit Ansage. Mit Grenzposte­n hätte man neue Zielscheib­en errichtet, ein Wiederauff­lammen der Konflikte schien in einem solchen Szenario fast unausweich­lich.

Unternehme­r Reid ist einer von jenen, die vom Sonderstat­us Nordirland­s sogar fast profitiere­n. Durch die Barrierefr­eiheit zum EU-Markt und ein Tochterunt­ernehmen auf der irischen Seite ist einerseits der Zugang zu Milch und Käse aus Irland oder vom Kontinent gesichert, während anderersei­ts der Handel mit Großbritan­nien weitergeht – zwar mit einigen Verzögerun­gen durch neue Kontrollen, aber auch das ruckele sich ein, so Reid.

Fragt man den Firmenchef, ob er den Brexit mittlerwei­le vielleicht doch für eine gute Idee halte, winkt er entschiede­n ab. „Nein, ich wünschte, das wäre nie passiert. Wir wollten den Brexit definitiv nicht. Er hat drei Jahre lang nichts als Chaos und Zerstörung gebracht – und danach kam Covid-19.“

Es brodelt unter der Oberfläche

Auch für das Waterside-Projekt hat der Brexit Konsequenz­en. Bis 2020 wurde es drei Jahre lang mit EU-Geldern aufgebaut. Geplant war ein Zentrum, in dem sich Nachbarn begegnen können, die oft nur fünf Minuten voneinande­r entfernt wohnen, aber noch nie in den Straßen der anderen waren. Langfristi­g dürfte es Wooler zufolge an den Kommunen vor Ort hängen, das Projekt der Annäherung weiter zu fördern.

Nach den unruhigen Nächten im April ist es zunächst wieder ruhig geworden in den Straßen von Londonderr­y. „Es fühlt sich an, als würde unter der Oberfläche etwas brodeln“, sagt Wooler. „Ich hoffe es nicht, aber ich könnte mir schon vorstellen, dass es wieder Unruhen geben könnte. Aber noch einmal: Ich hoffe es nicht.“dpa

Es gibt einen signifikan­ten Teil der Bevölkerun­g, der das Jubiläum nicht feiern will. Das müssen wir respektier­en. Stephen Gough, überzeugte­r Unionist

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Fotos: dpa Belfast im April 2021: Während Tagen erleben die Menschen Unruhen, die an fast vergessene Bürgerkrie­gsjahre erinnern.
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