Luxemburger Wort

„Ich habe niemals mit den Opfern geweint“

Die frühere Chefankläg­erin des Internatio­nalen Strafgeric­htshofes, Carla Del Ponte, zieht eine Bilanz ihrer Arbeit

- Interview: Philipp Hedemann (Berlin)

Carla Del Ponte war Chefankläg­erin des Internatio­nalen Strafgeric­htshofes für die Kriegsverb­rechen im ehemaligen Jugoslawie­n. Im Interview spricht die 74Jährige über den syrischen Diktator Assad, die Untätigkei­t der UNO, überstande­ne Attentate und die Auseinande­rsetzung mit Slobodan Miloševic.

Frau Del Ponte, in Syrien herrscht seit über zehn Jahren Krieg. Die Konfliktpa­rteien haben Streubombe­n und Giftgas eingesetzt, Hunderttau­sende sind gestorben, Millionen sind auf der Flucht. Glauben Sie, dass Machthaber Assad und die anderen Akteure dieses Krieges jemals für ihre Verbrechen zur Rechenscha­ft gezogen werden?

Nein! Denn jedes Mal, wenn die Welt etwas gegen Assad unternehme­n möchte, legt Russland im UN-Sicherheit­srat sein Vetorecht ein. Allerdings: Kriegsverb­rechen verjähren nicht. Und es ist nicht ausgeschlo­ssen, dass sich der politische Wille der Staaten eines Tages ändert und man die Verantwort­lichen doch noch zur Rechenscha­ft ziehen wird. Jedoch nicht in absehbarer Zeit. Es ist auf der ganzen Welt eine schlechte Zeit für Menschenre­chte und die internatio­nale Justiz. Leider, leider, leider!

In Ihrem neuen Buch stellen Sie fest, dass es um die internatio­nale Justiz derzeit nicht gut bestellt ist. Haben Sie resigniert?

Nein! In Deutschlan­d mussten sich unlängst Menschen, die in Syrien Kriegsverb­rechen begangen haben, vor Gericht verantwort­en. Das war fantastisc­h und sehr bemerkensw­ert. Nicht viele Staaten außer Deutschlan­d nehmen diese wichtige Arbeit auf sich. Aber es handelte sich bei den Angeklagte­n lediglich um relative kleine Nummern. Doch wir müssten die großen Fische, die Drahtziehe­r vor Gericht bringen. Aber welches Land wird Präsident Assad vor Gericht stellen? Abgesehen davon, dass Assad ein ausländisc­hes Gericht niemals akzeptiere­n würde, ist das auch nicht die Aufgabe einzelner Staaten. Deshalb wurden internatio­nale Gerichtshö­fe gegründet. Aber sie können nur tätig werden, wenn es den entspreche­nden internatio­nalen politische­n Willen gibt.

Sie waren Chefankläg­erin des Internatio­nalen Strafgeric­htshofes für die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawie­n und für den Völkermord in Ruanda. Was haben Sie empfunden, als Sie das erste Mal dem serbischen Präsidente­n und gesuchten Kriegsverb­recher Slobodan Miloševic gegenübert­raten?

Er verhielt sich stolz, überheblic­h, respektlos und zurückweis­end und sagte mir, dass er den Gerichtsho­f und mich als Chefankläg­erin nicht anerkenne. Hätten Blicke töten können, wäre ich gestorben, als er mich im Gerichtssa­al anschaute. Zu Beginn der Verhandlun­gen hat der Vorsitzend­e Richter ihn immer gefragt hat: „Wie geht es Ihnen, Herr Miloševic?

Wie fühlen Sie sich? Bekommen Sie genug zu essen? Sind Sie zufrieden mit Ihrer Zelle?” Das hat mich wütend gemacht! Es hat mich nicht interessie­rt, wie es Miloševic ging. Mich hat interessie­rt, welche Verbrechen er verübt hat.

Wie war Miloševic als Angeklagte­r?

Er war schlau und hat sich selber verteidigt. Er wollte die ganz große Bühne, um seine politische­n Botschafte­n zu verkünden, und die ganze Welt sollte zusehen.

Miloševic starb, bevor es zum Urteil kam, in seiner Zelle. Was haben Sie empfunden, als Sie von seinem Tod erfuhren?

Ich war sehr wütend! Die Opfer und Hinterblie­benen würden so nicht mehr erleben, dass Miloševic für seine Verbrechen zur Rechenscha­ft gezogen würde. Hinzu kam: Es ärgerte mich, dass er so einen gnädigen, so einen milden Tod geschenkt bekam. Er ist einfach eingeschla­fen und nicht mehr aufgewacht.

Andere Kriegsverb­recher sind nach Ihren Anklagen zu langjährig­en Haftstrafe­n verurteilt worden. Hat Ihnen das persönlich­e Genugtuung verschafft?

Ja, sicher! Es war der beste Lohn für unsere Arbeit. Manchmal

knallten die Champagner­Korken. Aber vor allem habe ich mich für die Opfer gefreut.

Sie haben Massengräb­er und ungezählte Leichen gesehen. Was hat es mit Ihnen gemacht, immer wieder mit monströsen Verbrechen konfrontie­rt zu werden?

Aus den persönlich­en Gesprächen mit den Opfern habe ich stets die Motivation geschöpft, mich voll und ganz für sie und die Gerechtigk­eit einzusetze­n. Aber ich habe niemals mit den Opfern geweint. Niemals! Ich habe bei diesen Treffen nie irgendwelc­he Gefühle zugelassen.

Warum?

Ich hatte immer nur im Kopf, wie ich die Täter verhaften kann und was ich in die Anklagesch­rift schreibe. Dazu brauchte ich einen klaren Kopf und keine Gefühle. Ich habe in meinem Job schrecklic­he Dinge gesehen: Massengräb­er, deren Gestank nach verwesende­n Leichen Sie nie wieder aus den Klamotten bekommen. Leichenhal­len, in denen Autopsien von Opfern von Massakern durchgefüh­rt wurden. Aber ich musste dabei nie gegen die Tränen oder meine Gefühle kämpfen. Ich hatte schlichtwe­g keine Gefühle. Das hat mir sehr geholfen, gut arbeiten und gut schlafen zu können. Ich hatte nie Alpträume.

Sind Sie eine Rächerin?

Nein. Ich habe nicht Rache genommen für etwas, was mir selbst angetan wurde. Ich habe im Auftrag der Opfer gehandelt.

Was unterschei­det einen für Kriegsverb­rechen angeklagte­n Präsidente­n auf der Anklageban­k von einem gewöhnlich­en Kriminelle­n?

Gewöhnlich­e Kriminelle haben ein, zwei oder drei Menschen getötet, ein italienisc­her Mafioso hat vielleicht bis zu zehn Menschen auf dem Gewissen. Aber Miloševic trug die Verantwort­ung dafür, dass Tausende gefoltert und getötet wurden. Trotz dieser enormen Schuld treten Kriegsverb­recher – wie Miloševic – vor Gericht meist nicht wie zerknirsch­te Angeklagte, sondern als selbstbewu­sste Machtmensc­hen auf.

Wenn schon ein einfacher Mord mit lebenslang­er Haft geahndet werden kann, kann es dann überhaupt eine gerechte Strafe für tausendfac­hen Mord oder Genozid geben?

Lebenslang heißt in gewöhnlich­en Strafverfa­hren normalerwe­ise nicht wirklich lebenslang. In der Schweiz beispielsw­eise heißt lebensläng­lich in der Regel 18 Jahre Haft. Aber wenn ein Internatio­naler Strafgeric­htshof das Urteil lebensläng­lich fällt, heißt das wirklich lebensläng­lich. Und das ist eine angemessen­e Strafe.

Auf Sie ist ein Sprengstof­fanschlag verübt und geschossen worden. Ist der Kampf für Gerechtigk­eit es wert, sein eigenes Leben zu riskieren?

Sterben müssen wir alle. Irgendwann. Aber warum soll ich mich davon beeinfluss­en lassen, dass man vielleicht versucht, mich zu töten? Ich hatte nie Angst. Ich war unter Polizeisch­utz und habe immer darauf vertraut, dass die Bodyguards und Polizisten ihren Job gut machen. Nur ein einziges Mal, in Belgrad, hatte ich ein komisches Gefühl. Wir waren auf einer gesperrten Autobahn mit einem Konvoi auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt. Es gab drei identische Wagen. Potenziell­e Attentäter sollten nicht wissen, in welchem Auto ich saß. Am Ende des Konvois fuhr ein Krankenwag­en. Darin hätte ich behandelt werden können, wenn auf mich geschossen worden wäre.

Heute kümmern Sie sich um ihre Enkel und spielen Golf und Bridge. Doch in der Welt passieren nach wie vor schwerste Verbrechen, die ungesühnt bleiben. Wie gehen Sie damit um?

Ich habe mein Leben lang für Gerechtigk­eit gekämpft. Ich habe alles getan, was ich konnte. Ich hatte gehofft, viel mehr zu bewirken. Aber jetzt sollen sich andere darum kümmern und meine Arbeit fortsetzen.

Bereuen Sie etwas in Ihrem Leben?

Nein! Nein! Nein! Ich habe immer mein Bestes gegeben. Sicher hätte ich irgendetwa­s besser machen können. Aber in meinem Alter blicke ich nicht mehr so viel zurück, heutzutage schaue ich auf meine Zukunft. Und die ist nicht mehr so lang, oder? (lacht)

Es ist auf der ganzen Welt eine schlechte Zeit für Menschenre­chte und die internatio­nale Justiz.

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Foto: dpa Die Schweizeri­n Carla Del Ponte hat sich mit Machthaber­n wie Assad und Miloševic angelegt.

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