Die Dame vom Versandhandel
5
Weg von den Blicken der Vermieterin und der Nachbarschaft, die hinter ihrem Rücken tuschelten und sich jetzt erst recht wieder das Maul zerreißen würden!
Sie bemühte sich, möglichst tief gegen die Wehen anzuatmen, die Häuser links und rechts der steilen Straße schienen auf sie zuzukommen und sich wieder zu entfernen, ein im Takt ihres Herzschlags pulsierender Tunnel, der sie verschlucken wollte.
An der Kreuzung oben am Frauenberg trottete ein Schäferhund quer über die Straße. Der Hund war alt, er zog mühsam das rechte Hinterbein nach, weder die kreischenden Bremsen noch die gellende Hupe brachten ihn dazu, seinen Gang zu beschleunigen. Nervös ließ Gotthelf den Motor im Leerlauf aufheulen, bis der Weg frei war und er so rasant nach rechts abbog, dass Annie sich am Armaturenbrett festklammerte.
Wenn man Männer danach beurteilen würde, wie sie Auto fuhren, dachte Annie, dann wäre Gotthelf sicher der Letzte, dem man vertrauen sollte. Sie hatte von Anfang an nicht so recht verstanden, was Kurt an ihm eigentlich fand. Und dass er Gotthelf vor einigen Wochen erst Prokura verliehen hatte, war ein immer wiederkehrendes Streitthema zwischen Kurt und ihr. Gotthelf war der Einzige in der Firma, mit dem sie nicht wirklich warm wurde, aber solange er sich nur um seine Zahlenkolonnen in der Buchhaltung kümmerte, schafften sie es, sich mehr oder weniger aus dem Weg zu gehen. Dennoch hielt Annie ihn für einen selbstverliebten Gockel, der seine Unsicherheit hinter einer großmäuligen Fassade verbarg. Bevor Kurt ihn in die Firma geholt hatte, war er Vertreter für Küchenmöbel gewesen, bei Poggenpohl in Herford – und genau dort hätte er nach Annies Meinung auch bleiben sollen. Warum Kurt jetzt ausgerechnet ihn geschickt hatte, um sie zu begleiten, konnte sie beim besten Willen nicht verstehen …
Als der Porsche in der Auffahrt zum Herz-Jesu-Krankenhaus blubbernd zum Stehen kam, war ihr schwindlig und ihr Unterrock klebte an ihrer Haut. Immerhin stützte Gotthelf sie jetzt am Arm, als sie Schritt für Schritt die Stufen hinaufstieg. „Ich danke dir, fahr zurück ins Büro, den Rest schaffe ich alleine“, keuchte Annie, als zwei Schwestern in Nonnenkleidung mit ihren blendend weißen Flügelhauben auf sie zugeeilt kamen.
„Ich habe Kurt versprochen, dass ich warte, bis er da ist.“Natürlich, dachte Annie, genau das ist es, was ich am allerwenigsten an dir mag. Du bist so unterwürfig wie ein kleiner Hund, der eifrig die Befehle seines Herrchens befolgt. Aber du verbirgst etwas hinter deiner dicken Brille, was ich vielleicht lieber gar nicht wissen will.
Als die Nonnen sie stützten, um sie in den Kreißsaal zu führen, rief Gotthelf noch einmal hinter ihr her: „Ich warte hier auf dem Gang! Bis Kurt da ist.“
Drei Stunden später war Annie Mutter eines gesunden Mädchens. Die Geburt war schnell und recht problemlos gewesen, Annie aber kam sie vor wie eine Ewigkeit. Als sie das kleine Bündel zum ersten Mal an ihre Brust drückte, war sie restlos erschöpft, doch gleichzeitig von einem Glück erfüllt, wie sie meinte, es noch nie erlebt zu haben. Alle Schmerzen und Ängste der Geburt waren vergessen, es gab nur noch sie und dieses winzige Wesen, das ihr trotz der zusammengekniffenen Augen so perfekt vorkam, dass sie die
Tränen nicht länger zurückhalten konnte.
Eine der Nonnen nickte ihr lächelnd zu, um gleich darauf mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, zu sagen: „Ich nehme die Kleine jetzt und bringe sie in den Babyraum. Dann kann der nervöse Vater sie sich durch die Scheibe ansehen.“
„Ist er da?“, fragte Annie. „Weiß er schon, dass es ein Mädchen ist? Ein gesundes, kleines Mädchen?“
„Natürlich, er ist ja die ganze Zeit wie so ein Tiger auf dem Gang hin und her gerannt. Aber da ist er nicht der Erste, der vor Aufregung fast durchdreht. Die Kerle sollten lernen, lieber zum Herrgott zu beten, das würde mehr helfen, als sich andauernd die Brille zu putzen und eine Zigarette nach der anderen zu qualmen.“
Annie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass es nicht um Kurt ging, sondern um Gotthelf.
„Das ist nicht mein Mann, nur ein … Kollege, der mich hergebracht hat.“
„Dann ist das nicht der Vater?“„Nein, nein, nur ein …“
Annie brach mitten im Satz ab, als die Nonne sie empört musterte. Im selben Augenblick verstand sie, wem diese Empörung galt – nicht dem eigentlichen Vater, der nicht zur Geburt erschienen war, sondern ihr selber, die nach Meinung der Nonne Schuld daran trug, dass hier etwas nicht so war, wie es sein sollte! Annie konnte sich denken, was im Kopf der Nonne vor sich ging. Fulda war erzkatholisch, ein fremder Mann hatte bei der Geburt nichts zu suchen und konnte nur eins bedeuten …
Der Ton der Nonne war jetzt mehr als barsch, als sie Annie das schlafende Baby aus dem Arm nahm. „Ich bringe es Ihnen zum Stillen wieder.“
„Aber darf ich es nicht noch ein bisschen bei mir behalten? Nur ein paar Minuten?“
„Nein, das geht nicht. Wir haben Regeln hier, an die sich alle halten müssen.“
Die Nonne war kaum zur Tür hinaus, da schien es Annie, als hätte man ihr das Baby für immer weggenommen. Wenn doch nur Kurt da wäre, dachte sie, jemand, der meine Hand hält, der mir versichert, dass alles in Ordnung ist, dass sie unser Kind nicht verwechseln werden, dass es ihm nichts ausmacht, nicht bei seiner Mutter zu liegen, dass es ja nur um ein paar Tage geht, bis wir alle zusammen nach Hause können …
Plötzlich meinte sie, von weit her das hilflose Wimmern eines Kindes zu hören. Lass es nicht mein Baby sein, das da vor Kummer weint, dachte sie, während sie kraftlos nach dem schmalen Heft griff, das sie auf dem Nachttisch deponiert hatte. Ein Abreißkalender in einem dunkelgrünen, genarbten Umschlag, ein Werbegeschenk der Firma für neue Kunden mit dem Eulendorf-Motto auf dem Einband.
Automobile