„Ich bin nur die Botin, die erzählt“
Katja Riemann über ihre Erlebnisse in Moria, ihren Job hinter der Kamera und die Arbeit mit „Ausnahmemenschen“
Wer hätte geahnt, dass es in Europas größtem Flüchtlingslager Moria auf Lesbos eine Filmschule gab? Und dass die Studenten dort neben Kameraführung, Schnitt und Berichterstattung auch Selbstvertrauen oder Erfahrung in Gleichberechtigung erwerben konnten? Schauspielerin Katja Riemann hat diese Schule bei einem ihrer Besuche dort „entdeckt“und darüber eine sehenswerte Doku für Arte gedreht, die mittlerweile auch auf YouTube zu sehen ist – ihr Regiedebüt.
Katja Riemann, Sie zeigen Europas größtes Flüchtlingslager Moria unter einem ganz neuen Aspekt: In Moria gab es eine Filmschule. Wie sind Sie darauf gestoßen?
Ich habe im August 2020 davon erfahren, als ich vier Wochen zu einer Recherche in Griechenland war, in Athen, auf Chios und Lesbos. Die Filmschule mit Namen „ReFOCUS Media Labs“ist eine Foundation, eine Nichtregierungsorganisation, die vor Ort Bildung in filmischer Hinsicht anbietet. Douglas Herman und Sonia Nandzik, die beiden Gründer, habe ich durch „Mission Lifeline“kennengelernt. Sie erzählten mir bei einem gemeinsamen Abend von ihrer Arbeit. Am nächsten Tag habe ich an einem ihrer Kurse teilnehmen dürfen, in der Schule, die in einer Garage neben Morias Dschungel untergebracht war.
Waren Sie als Filmschaffende gleich neugierig, warum sich dort eine Filmschule ansiedelt?
Ich war beeindruckt und begeistert von den beiden Gründern, der Idee, der Struktur, der Möglichkeit durch Film und Geschichten auch einen kathartischen Weg für den Lebensumstand, in dem die jungen Geflüchteten leben, zu etablieren. Am 5. September 2020 verließ ich Lesbos, am 8. September brannte das Lager Moria ab. Doch die Schule unterrichtet online weiter.
Die Dokumentation ist ganz nebenbei auch Ihr Regiedebüt. Was hat Sie jetzt dazu bewegt, was Sie vorher gebremst hat?
2019 bekam ich ein Angebot von Arte, einen kurzen Film für die Reihe „Carte Blanche“zu machen. Wie der Name schon sagt, konnte ich frei entscheiden, was ich machen wollte. Es gab verschiedene Ideen, die durch die Pandemie dann nicht mehr möglich waren, aber nachdem ich ReFOCUS kennengelernt hatte, war das Thema gefunden. Regie-Ambitionen hatte ich nicht. Aber dokumentarisch zu denken, mit einem humanitären Thema, bei dem ich einem Projekt eine Bühne gebe wie schon zuvor bei meinem Buch, das gab mir das Vertrauen, es zu versuchen. Dazu kommt, dass mein kleines Drei-PersonenTeam großartig ist und alle in der Welt des Dokumentarfilms eine große Expertise haben.
Sie porträtieren diese zwei strukturierten, sympathischen Lehrer Douglas und Sonia, zugleich erzählen Sie die Geschichte des Lagers
und auch dieser jungen wissenshungrigen Studenten. Was hat sich mit der Kamera in der Hand für sie verändert?
Zuerst einmal die Möglichkeit etwas zu lernen, an einem Ort, der sonst nur Stillstand bedeutet. Bildung bedeutet ja nicht nur Lesen, Schreiben, Rechnen, sondern vor allem selbstständiges Denken und Gestalten. Das bietet ReFOCUS ihnen in filmischer Hinsicht an, und die Studierenden haben begeistert danach gegriffen. Dann natürlich sich mit der Technik von Foto- und Filmkamera vertraut zu machen und viel über Schnitt, Ton, Dramaturgie, Storytelling zu lernen. Es gibt drei Levels, jedes dauert vier Monate und wird mit einem Zertifikat abgeschlossen, erst Fotografie, dann Video, zusätzlich gibt es journalistische Kurse. Man konnte förmlich beobachten, wie dort Motivation und Selbstvertrauen entsteht.
Was beeindruckte Sie an den sechs Studierenden, auf die Sie sich fokussierten?
Die sechs Männer und Frauen zwischen 17 und 25 haben alle das Studium aus einem anderen
Grund aufgenommen, es sind Disziplinen vertreten wie Regie, Ton, Schnitt, Journalismus, Schauspiel, Schreiben. Insgesamt haben bislang junge Menschen aus zwölf verschiedenen Nationen teilgenommen. Als das Lager im Lockdown war und später abbrannte, hatten die internationalen Medien keinen Zugang mehr – und so waren es die Studierenden selbst, die das Material für CNN, BBC oder Al Jazeera produzierten, da sie das Know-how hatten. Aber wie ihr Lehrer Douglas Herman in meinem Film sagt: „Es war nie unsere Intention, dass sie die Misere ihrer eigenen Lebensumstände dokumentieren sollten.“
Einige Studenten wirken künstlerisch „wachgeküsst“, wollen Regie führen, träumen von eigenen
Filmen. Aber auch in puncto Gleichstellung ist vieles passiert, gerade bei den Frauen …
Derzeit studieren viele Flüchtlinge aus Afghanistan an der Schule. Die Mädchen sagten, dass sie es nie gewohnt waren, mit Männern zusammen unterrichtet zu werden, daher gingen sie nicht davon aus, dass sie hier gleichermaßen am Unterricht teilnehmen könnten. Aber es waren die Jungen, die ihnen die Tür dafür aufmachten. Das Thema Gender ist daher zügig keins mehr gewesen. Die jungen Frauen bekamen den Mut und das Selbstvertrauen, frei, interessiert und gleichberechtigt zu lernen – und auch mal als erste „Ich!“zu sagen.
Nehmen die Schüler noch mehr für sich mit, was jenseits des technischen Know-hows liegt?
Ich denke, dass sie etwas entdeckt haben, von dem sie nicht wussten, dass es vorhanden war. Oder dass diffuse Vorstellungen real werden konnten, wie der Wunsch von Nazanin, Journalistin zu werden. Die Studierenden waren es auch, die nicht losließen und den Unterricht selbst nach jedem neu auftauchenden Hindernis einforderten. Zuerst war ReFOCUS bei der NGO „One happy familiy“untergebracht, als dort die Klassenräume abbrannten, fragten sie am nächsten Tag: „Wo haben wir jetzt Unterricht?“Genauso, als Moria abbrannte. Im November 2020 mussten Sonia und Douglas die Insel verlassen, aber seitdem geht der Unterricht täglich online weiter.
Bildung bedeutet ja nicht nur Lesen, Schreiben, Rechnen, sondern vor allem selbstständiges Denken und Gestalten.
Die jungen Frauen bekamen den Mut und das Selbstvertrauen, frei, interessiert und gleichberechtigt zu lernen.
Es ist kaum bekannt, dass Sie seit 20 Jahren um die Welt reisen und die Arbeit verschiedenster NGOs verfolgen. Warum kamen Sie nicht früher auf die Idee, diese Arbeit selbst filmisch zu begleiten?
Gerade weil ich Filmschaffende bin, weiß ich, wie schwierig es ist, Filme zu machen. Um einen Dokumentarfilm zu drehen, braucht man jedoch vorab ein Buch, ein Thema, eine Idee. Dass ich letzten Sommer einige Wochen auf Lesbos war und mich dort etwas auskannte, davon profitierte dann der Dreh im November. Film kostet am Ende auch mehr Geld, als wenn ich alleine in die Welt reise, darüber reflektiere und von Begegnungen oder eindrucksvollen Projekten erzähle.
2020 erschien Ihr Buch „Jeder hat. Niemand darf.“, in dem Sie von erschütternden Erlebnissen berichten. Sie begegneten Senegalesinnen mit Genitalverstümmelung oder Nepalesinnen, die als Leibeigene verkauft wurden. Ist das alles einfach zu verdauen?
Ich bin ja nicht die, die in einem Lager lebt, ich habe keinen Krieg erlebt und keine Gruppenvergewaltigung. Ich bin nur die Botin, die von einzelnen Momenten, Menschen, Hoffnungen und Möglichkeiten erzählt. Es geht nicht um mich, ich versuche lediglich die Lesenden mit auf die Reise zu nehmen und sie Anteil nehmen zu lassen an meinem
Blick auf die Gegebenheiten. Ich bin dankbar für diese Reisen, dass Menschen, die ich nicht kenne, mir offen begegnen und mir erlauben, mit ihnen zu sprechen.
Was gibt Ihnen – angesichts der Zustände in der Welt – Hoffnung?
Hoffnung ist vielleicht ein Gefühl im Miteinander und in der Solidarität. Hoffnung setzt dann ein, wenn man fragt, was die Alternative zur Hoffnung wäre. Die Apokalypse? Die Dystopie? Unser Leben ist endlich. Ich persönlich kann ja schon den Horizont sehen. Wir haben gar keine Zeit mehr, uns ständig gegenseitig eins auf die Mütze zu hauen. Ich verstehe nicht, warum wir uns so rechthaberisch, meinungsorientiert und gewalttätig auseinandersetzen. Es wären doch so viele andere Szenarien denkbar.