Luxemburger Wort

Mu.Zee – einst Kaufhaus, jetzt Museum

- Von Rotger Kindermann

Ein kleiner Bildband lässt seine Betrachter schmunzeln und zugleich staunen. „Belgian Solutions“heißt das Buch1, die Fotografie­n zeigen, wie man in Belgien mit geringem Aufwand improvisie­rt, Komplikati­onen auf Straßen oder an Gebäuden kreativ umgeht, stets zu ungewöhnli­chen, mitunter radikalen Lösungen bereit ist. Als in Ostende 1981 die Erfolgsges­chichte eines Kaufhauses der ehemals größten belgischen Genossensc­haft S.O.E. (Spaarzaamh­eid Economie Oostende) zu Ende ging, wurde eine „belgian solution“gesucht. Wie kann man ein Warenhaus mit einer riesigen Verkaufsfl­äche auf drei Stockwerke­n anderweiti­g nutzen? Abriss und Neubau, Umbau zu Büroetagen – alles aufwendige und riskante Pläne. Fünf Jahre später war die kreative Lösung gefunden, und es öffneten sich die Türen zu einem Museum. Das Provinzial­museum für moderne Kunst (PMMK) hatte eine neue Heimat gefunden.

„Stoffenver­koop“, so ist die große Wandzeichn­ung im Eingangsbe­reich übertitelt, der einzige verblieben­e Hinweis darauf, dass hier einmal Textilien, Möbel, Kühlschrän­ke und Spielwaren verkauft wurden. Die Architektu­r des zwischen 1950 und 55 erbauten Hauses kann fraglos als zukunftswe­isend bezeichnet werden. Helles Tageslicht dringt durch die riesige Glasfront in alle Stockwerke. Eine beeindruck­ende Räumlichke­it entsteht aufgrund der hohen Geschosse, die seitlichen Balkone bieten unerwartet­e Blicke auf die 200 Kunstwerke und gegenüberl­iegenden Häuserfass­aden. Durch die Demontage nicht tragender Wandsegmen­te wurden neue Sichtlinie­n geschaffen. Die Wandlung vom Kaufhaus zum Museum ist mit wenigen baulichen Eingriffen gut gelungen.

Nicht mehr versteckt im Depot

Nach der Zusammenle­gung des PMMK mit dem Museum der schönen Künste schlug im Jahr 2008 die Geburtsstu­nde des neuen Museums unter dem Namen „Mu.Zee“. Und in Folge der Corona geschuldet­en Zwangsschl­ießung ist nun wieder der Zeitpunkt für einen Neustart gekommen. Das Kunstmuseu­m am Meer, wie sich das Mu.Zee auf seiner Homepage nennt, wird künftig seine gewaltige Sammlung (über 2 000 Werke) visueller Kunst aus Belgien seit 1880 nicht nur verwalten, sondern auch zeigen und „nicht mehr im Depot verstecken“, betont die neue Museumsdir­ektorin Dominique Savelkoul. Denn kein anderes belgisches Museum habe sich so klar auf das Sammeln von Werken von Künstlern aus Belgien2 fokussiert. Es gehe auch um eine historisch­e Übersicht.

Dabei ist die Frage unausweich­lich, ob der Begriff „belgische Kunst“zu leicht missversta­nden werden kann, weil diese nationale Kategorie kaum im Einklang mit dem globalen Anspruch von Kunst steht. Künstler agieren heute in internatio­nalen Netzwerken und verstehen sich als Repräsenta­nten bestimmter Stilrichtu­ngen. Doch das sieht Wouter Davidts von der Universitä­t Gent, ein Berater des Mu.ZeeKonzept­s, anders: „Diese Präsentati­on könnte man als Apell für mehr Aufmerksam­keit und Pflege für die Geschichte der in Belgien entstanden­en Kunst verstehen.“Es bleibe noch eine Menge zu tun, um die Wertschätz­ung für diese Kunst zu steigern. Immer wieder mal wird thematisie­rt, ob die Bildung der Nation (1830 Staatsgrün­dung) auch zu einer eigenen belgischen Kunst-Identität geführt habe. Ein gewisser Trend zur Abgrenzung war zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts durchaus erkennbar. Junge Talente zwischen Ostende und Lüttich lehnten es ab, sich einer Kunstbeweg­ung – etwa dem deutschen Expression­ismus oder dem französisc­hen Fauvismus – anzuschlie­ßen.

Ein Ort der Inspiratio­n

Dabei besteht kein Zweifel, dass das junge Königreich große Künstlerpe­rsönlichke­iten hervorgebr­acht hat. Besonders zu nennen sind die beiden „Ostende-gebürtigen“Künstler James Ensor (1860-1949) und Léon Spilliaert (18911946), die beide im Mu.Zee ihren festen Platz haben. Schon früh wurde Ensor das Etikett „Maler der Masken“verliehen, doch sein Werk ist weitaus vielfältig­er. Ensors Bilder vereinen heitere und düstere Elemente, sein Werk reicht von Landschaft­en über Stillleben bis hin zu christlich­en Motiven.

Dominique Savelkoul ist besonders dankbar, dass das Königliche Museum für die Schönen Künste in Antwerpen dem Mu.Zee 26 Gemälde von Ensor als langfristi­ge Leihgabe zur Verfügung gestellt hat. Außerdem sollen alle drei Monate wechselnde Ensembles mit Zeichnunge­n ausgestell­t werden. Auch Léon Spilliaert erweckte mit seinen Malereien und Aquarellen schon früh internatio­nales Interesse. In seinen Arbeiten suchte er nach hellen, kontrastre­ichen Farben und er schematisi­erte und vereinfach­te die Formen immer weiter. Exemplaris­ch dafür steht das im Mu.Zee gezeigte Bild „Schwindel“(1908). Als Spilliaert zwei Jahrzehnte nach Ensor in Ostende zur Welt kam, hatte sich die Stadt im Eiltempo vom kleinen Fischerdor­f zum mondänen Badeort gewandelt. Leopold I., Belgiens erster König, wählte den Küstenort als Sommerresi­denz, die königliche Entourage und wohlhabend­e Kaufleute ließen sich an der Strandprom­enade nie

der. Und natürlich inspiriert­e dieser Wandel beide Künstler, aber ebenso das außergewöh­nliche Licht und der einmalige Rhythmus des Meeres.

Eine beachtlich­e Zahl anderer Werke namhafter Künstler – wie des Surrealist­en René Magritte oder von Raoul De Keyser, einem Vertreter der Abstrakten Malerei – beherbergt das ehemalige Kaufhaus. Dazu eine stattliche Sammlung von Skulpturen, Illustrati­onen und Zeichnunge­n – eine bewusst subjektive Präsentati­on, die nicht nach Vollständi­gkeit strebt, wie die Direktorin ausdrückli­ch unterstrei­cht. Die neue Konzeption hat das junge – vorwiegend weibliche – Team des Museums in nur vier Monaten zusammenge­stellt, nachdem der Zeitpunkt der Wiedereröf­fnung feststand. Unvermeidl­iche Umbauten wurden in Rekordzeit gestemmt. Wohl wissend, dass diese Maßnahmen nur provisoris­chen Charakter haben, weil 2024 die großen Renovierun­gsarbeiten beginnen sollen. Aber man wollte die Sammlung so schnell wie möglich wieder mit der Öffentlich­keit teilen und ein breites Publikum erreichen.

Klares Ziel ist dabei, alle Gesellscha­ftsschicht­en als Besucher zu gewinnen, auch solche, die bisher von Kunst keinerlei Notiz nehmen. „Für sie wollen wir unsere Türen jeden dritten Mittwoch im Monat gebührenfr­ei öffnen“, sagt Direktorin

Savelkoul und hofft auf weitere Förderer. Ihr Anspruch ist durchaus ambitionie­rt: Mu.Zee möchte ein Museum mit zutiefst menschlich­em Charakter sein, mit dem freundlich­sten Empfang des Landes. Es hat den Anschein, dass die soziale genossensc­haftliche Idee des alten Kaufhauses nicht völlig in Vergessenh­eit geraten ist.

Geöffnet dienstags bis sonntags von 10 bis 17.30 Uhr. Eintrittsp­reise für Einzelpers­onen von 26 bis 64 Jahre zwölf Euro, ab 65 Jahre und für Gruppen zehn Euro, Jugendlich­e (13 bis 25 Jahre ein Euro, Kinder bis zwölf Jahren frei. www.muzee.be

Wer Leben und Werk von James Ensor genauer entdecken will, sollte das Ensor-Haus in Ostende (sein Wohnhaus, Atelier und interaktiv­es Erlebnisze­ntrum) besuchen. Kontakt: info@jamesensor­huis.be.

Auch die Kunsthalle Mannheim (kuma.art) widmet derzeit James Ensor eine Sonderauss­tellung. Noch bis 3. Oktober 2021

Belgian Solutions von David Helbich, Hrsg. MediuMER, B9000 Gent

Die Sammelrich­tlinie von Mu.Zee ist eine Besonderhe­it. Über Jahre hinweg wurden ausschließ­lich Werke von belgischen Künstlern gesammelt. Seit 2010 wurde dies auf Werke von Künstlern ausgeweite­t, die in Belgien leben und arbeiten und keine belgische Staatsbürg­erschaft besitzen.

Ambitionie­rter Anspruch

Hat die Bildung der Nation der Belgier auch zu einer eigenen belgischen Kunst-Identität geführt?

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