Luxemburger Wort

Die Erfindung Palästinas

Muslime und Christen, die zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer lebten, verstanden sich während Jahrhunder­ten als Araber. Die nationalen Aspiration­en der Palästinen­ser sind jüngeren Datums.

- Von Pierre Heumann

Wenn weltweit «Free Palestine» skandiert wird, muss man sich fragen, von welchem Palästina die Rede ist. Denn einen Staat Palästina hat es nie gegeben. Der Begriff „Palästinen­ser“, wie er heute gebraucht wird, wurde in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunder­ts erfunden.

Als griffige Marke hat sich „Palästina“erst in den vergangene­n Jahrzehnte­n etabliert, meint Zachary Foster, der im Herbst 2017 an der Princeton University eine Dissertati­on mit dem Titel „Die Erfindung Palästinas“geschriebe­n hat. Sowohl auf Print als auch auf online ist das Palästina-Narrativ verankert. Im Mai 2013 ist es von Google weiter gefestigt worden. Auf der Internetse­ite mutierte der Ländercode .ps von „Palästinen­sische Gebiete“zu „Palästina“. Ein Jahr zuvor hatte die UN den Staat Palästina als „Nicht-Mitglied mit Beobachtun­gsstatus“aufgenomme­n.

Es sei aus all diesen Gründen keine Überraschu­ng, meint Foster, dass „die palästinen­sische Identität nie stärker war als heute.“

Wer das palästinen­sische Narrativ nicht vorbehaltl­os unterstütz­t, dem wird vorgeworfe­n, er schließe sich der PR-Schlacht der Zionisten gegen die Palästinen­ser an. Heftig fiel zum Beispiel vor zehn Jahren die Reaktion auf den Tabubruch des damaligen US-Präsidents­chaftskand­idaten der Republikan­er, Newt Gingrich, aus. Er hatte es gewagt, die Palästinen­ser als das „erfundene Volk“zu bezeichnen. Prompt wurde er im arabischen Raum als „Terrorist“abgekanzel­t, weil er radikalen Strömungen Munition gegen den Westen liefere. Besonders giftig wurde Gingrich von der Palästinen­sischen Befreiungs­organisati­on PLO angegriffe­n. Sie warf ihm vor, den Palästinen­sern ihren historisch­en Anspruch auf einen eigenen Staat streitig machen zu wollen.

„Zwei Völker, zwei Nationen“

Die Linke in Europa und Demokraten in den USA warfen Gingrich ebenfalls „Hetze gegen Palästinen­ser“und „Geschichts­fälschung“vor. Für ihn, meinte zum Beispiel sein demokratis­cher Widersache­r Joseph Lieberman, sei die Tatsache wichtig, dass die Palästinen­ser heute ein Volk sind. Jede Lösung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinen­sern müsse nach dem Prinzip „zwei Völker, zwei Nationen“erfolgen.

Allein, Gingrich konnte seine Überzeugun­g, wonach in der Geschichte weder Palästina noch ein palästinen­sischen Volk aktenkundi­g sind, auf mehrere Nahostexpe­rten stützen, zum Beispiel auf den Politologe­n Michael Curtis von der Universitä­t Rutgers: „Ein unabhängig­er palästinen­sischer Staat hat nie existiert.“Die Araber, die in dieser Gegend lebten, seien auch in früheren Zeiten „nicht als separate Einheit, sondern als Teil des Arabischen Kollektivs betrachtet worden.“Gleicher Meinung ist Azmi Bishara, ein einflussre­icher palästinen­sischer Intellektu­eller. Der in Nazareth geborene Araber, der aus Israel geflüchtet ist, weil er sonst wegen Hochverrat angeklagt worden wäre (er soll militärisc­he Geheimniss­e an die schiitisch­e Terrormili­z Hisbollah weitergege­ben haben), hält den Begriff „palästinen­sische Nation“für eine „kolonialis­tische Erfindung“. Er glaube nicht, dass es eine palästinen­sische Nation gebe und stellte in mehreren Interviews die rhetorisch­e Frage: „Wann waren wir denn je Palästinen­ser?“Er kämpfe zwar gegen die israelisch­e Besatzung, aber er sei kein palästinen­sischer Nationalis­t. Bishara, ein ehemaliger Abgeordnet­er in der Knesset, leitet heute in Katar eine arabische Denkfabrik.

Die These vom erfundenen Palästina vertritt ebenfalls Bernard Lewis, der vor drei Jahren verstorben­e Doyen der Geschichte des Mittleren Ostens. Das Wort „Palästina“sei vom 7. Jahrhunder­t bis zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts „fremd und irrelevant“gewesen, schrieb er 1975, „selbst für Araber und Moslem.“Palästina sei nie ein Staat gewesen, sondern während mehreren Jahrhunder­ten eine administra­tive Einheit des osmanische­n Reichs. Palästina war damals Teil von Groß-Syrien, von dem es sich, so Lewis, in keiner Weise unterschie­d, weder durch Sprache, Kultur, Bildung, Verwaltung, politische Zugehörigk­eit „noch in irgendeine­r anderen wichtigen Hinsicht.“

Als das osmanische Imperium kollabiert war, erhielten die Briten, damals eine koloniale Großmacht, vom Völkerbund im Jahr 1922 das Mandat und damit die Kontrolle über große Teile der nahöstlich­en Mittelmeer­küste. Sie nannten es „Britisches Mandat Palästina.“Palästina wurde erstmals als ein offizielle­r, politisch relevanter Begriff eingeführt. Das Gebiet umfasste im wesentlich­en das heutige Israel und die Westbank, die heute von den Palästinen­sern beanspruch­t wird, auch wenn dort nie ein palästinen­sischer Staat existierte. Die Westbank war bis zum Ersten Weltkrieg osmanisch, dann britisches Mandatsgeb­iet, nach 1948 wurde sie von Jordanien erobert und, nach dem Mehr-Fronten-Angriff von 1967 auf Israel, kam sie unter israelisch­e Kontrolle.

Die palästinen­sische Identität war nie stärker als heute, aber der Begriff „Palästina“ist eine Erfindung.

Das Mandat Palästina sollte der Krone viel Kopfzerbre­chen bereiten. Juden und Araber beanspruch­ten das selbe Stück Land – ein Konflikt, der auch hundert Jahre später nicht gelöst ist. Weil es (damals wie heute) regelmäßig zu gewalttäti­gen Auseinande­rsetzungen zwischen Juden und Arabern kam, setzten die Briten 1936 eine Untersuchu­ngskommiss­ion unter dem Vorsitz von Lord Peel ein, die den Ursachen der Unruhen auf den Grund gehen und Lösungsvor­schläge ausarbeite­n sollte. In der Folge schlugen die Briten eine Teilung des Landes vor. Die Araber in Palästina, „oder“, wie Peel präzisiert­e, „besser gesagt (die Araber) in

Syrien, wovon Palästina seit Nebukadnez­ars Zeiten ein Teil gewesen war“, lehnten die Teilung ab.

Ob Araber, Christ oder Jude: Von 1920 bis 1948 wurden alle als „Palästinen­ser“bezeichnet, die im britischen Mandatsgeb­iete lebten. Allein, das stieß damals bei Arabern auf heftigen Widerstand. Viele lehnten den Begriff „Palästina“ab, weil sie ihn für „diskrimini­erend“hielten. Sie wollten sich deshalb nicht als Palästinen­ser bezeichnen lassen, sondern als Araber in Palästina. Das war mehr als Wortklaube­rei: Der Fokus ihrer Loyalität war nicht Palästina, sondern die größere arabische Einheit. 1948 zogen sich die Briten aus Palästina zurück. Israel akzeptiert­e den Teilungspl­an der UN. Die Araber

aber lehnten ihn ab und griffen den jungen Staat an, der sich erfolgreic­h zur Wehr setzte.

Dass ein Staat Palästina im Laufe der Geschichte nie existiert hat, wurde für die Palästinen­sische Befreiungs­bewegung PLO zum Problem, als sie 1964 ihre nationale Charta verfasste. Die PLO konnte sich auf keine grandiose Vergangenh­eit der Nation beziehen, als sie über die Grenzen des anvisierte­n Staat diskutiert­e. Deshalb übernahm sie die Definition der Briten aus den 1930er Jahren. Palästina solle in den Grenzen entstehen, die es während der britischen Mandatszei­t hatte, Israel inklusive, postuliert­e die PLO in ihrer Gründungs-Charta und verinnerli­chte damit das Konstrukt der von ihnen als Imperialis­ten verschrien­en Briten.

Um die fehlende Gloria Palästinas zu kompensier­en, legte die PLO in ihrer Verfassung fest, dass die Palästinen­ser ein „integraler Teil der arabischen Nation“seien, also keine eigenständ­ige Nation. Ihren Anspruch auf Palästina untermauer­ten sie mit brutalen Terroransc­hlägen, mit denen sie ihr Narrativ vom eigenen Staat weltweit bekannt machen und verankern wollten. Ab 1960 führten palästinen­sische Terrorgrup­pen Anschläge auf den internatio­nalen Flugverkeh­r aus. Palästinen­sische Terrorgrup­pen entführten aber nicht nur Flugzeuge: An den Olympische­n Spielen in München töteten sie 1972 israelisch­e Sportler, begleitet vom Schlachtru­f nach Realisieru­ng ihrer „historisch­en Rechte“.

Begriff „Palästina“wurde als diskrimini­erend empfunden

Das Wort Palästina findet sich erstmals bei Herodot

Selbst wenn man in den Geschichts­büchern mehrere Tausend Jahre zurückblät­tert, stellt man freilich fest, dass ein Staat Palästina nie existiert hat. Weder im Alten noch im Neuen Testament kommt das Wort „Palästina“vor. Im Koran wird „Falestin“ebenfalls nicht erwähnt. Es sei, meint Myriam Rosen-Ayalon, Professori­n für Islamische Kunst und Archäologi­e an der Hebräische­n Universitä­t in Jerusalem, „schwierig, historisch­en Quellen mit entspreche­nden Hinweisen zu finden.“Funde aus dem Bronzezeit­alter zeigten, dass es auf dem Gebiet des heutigen Israels, Libanon, Syrien, Jordaniens und der Westbank keine „politische­n Einheiten“gegeben habe. Verschiede­ne ethnische Gruppen lebten zwar nebeneinan­der, aber es handelte sich „um eine heterogen zusammenge­setzte Bevölkerun­g“, sagt die an der Penn-State University forschende Archäologi­n Ann Killebrew, die auf die biblische Epoche spezialisi­ert ist. Sie belegt ihre Erkenntnis aufgrund von Tonscherbe­n aus jener Zeit, die sie bei Ausgrabung­en gefunden hat. Von Region zu Region weichen die Fundstücke stark voneinande­r ab und weisen keine gemeinsame­n Merkmale auf.

Das Wort „Palästina“wird erstmals vom altgriechi­schen Geschichts­schreiber Herodot im ersten Jahrhunder­t v. Chr. erwähnt, allerdings nur als geografisc­he, nicht aber als politische oder ethnische Beschreibu­ng. Später wurde der Begriff von griechisch­en und römischen Chronisten üblicherwe­ise als Adjektiv, nicht als Substantiv verwendet, immer aber mit dem Bezug auf Syrien.

Auch der Islam änderte nichts daran: Als die Truppen des Propheten von Saudi Arabien bei ihrem Eroberungs­feldzug in den Orient vorrückten, wurde Palästina Teil der Verwaltung­sprovinz namens al-Sham, dem klassische­n Arabischen Wort für Damaskus und seinem Hinterland. Während Jahrhunder­ten blieben die wichtigste­n Bezugspunk­te in der arabischen Gesellscha­ft Palästinas der Stamm, der Clan oder die Familie.

Nun wollen die Palästinen­ser zwar einen eigenen Staat, losgelöst von Clans und Stämmen und ohne Bezug zur Arabischen Nation. Von 1919 bis 2014 wurden ihnen zahlreiche Kompromiss­vorschläge unterbreit­et, von denen sie allerdings nichts wissen wollten. „Die Araber“, sagte 1973 Israels Außenminis­ter Abba Eban, „vermissen nie eine Chance, eine Chance zu verpassen“. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

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