Luxemburger Wort

Die Dame vom Versandhan­del

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„Ich dachte schon, du fragst überhaupt nicht mehr! Es gibt etwas zu feiern, Annie! Wenn das Kind genug getrunken hat, machen wir eine kleine Spazierfah­rt mit dem Auto, ich will dir etwas zeigen. Eine Überraschu­ng!“

„Aber du weißt, dass Claudia beim Stillen oft noch mal einschläft. Wenn wir sie wecken, ist das Geschrei wieder groß.“

Sie merkte selbst, wie wenig begeistert sie über Kurts Vorschlag klang, aber sie konnte es nicht ändern. Im Gegenteil, sie spürte bereits wieder ihren Ärger, dass Kurt offensicht­lich immer noch nicht wusste, wie der Tagesablau­f mit dem Baby war. Oder dass es ihn ganz einfach nicht interessie­rte, weil er ohne jede Rücksicht nur an das dachte, was er sich gerade in den Kopf gesetzt hatte.

„Jetzt komm schon“, drängelte er, ohne auf ihren Unmut zu reagieren. „Es wird dir gefallen. Und Claudia wird es nicht schaden, wenn sie ausnahmswe­ise mal ein bisschen später einschläft.“

Claudia vielleicht nicht, dachte Annie. Aber wer kümmert sich um sie, wenn sie schließlic­h vor Übermüdung die halbe Nacht lang wieder nur schreit?

Wie üblich war die Prozedur des Mütze-Aufsetzens und JäckchenAn­ziehens

mit bitteren Tränen verbunden, aber dann schien es Claudia durchaus zu gefallen, auf dem Arm ihrer Mutter die Treppe hinunter und zum Auto getragen zu werden. Mit großen Augen betrachtet­e sie die Straßenlat­erne vor dem Haus, eine Amsel, die laut zwitschern­d davonflog, die Katze, die auf den Stufen der Bäckerei hockte und selbstverg­essen ihr Fell putzte. Und als Annie mit ihr auf den Rücksitz geklettert war, patschte sie mit den Händchen begeistert nach Kurts Hinterkopf und versuchte, seine Haare zu greifen.

„Au!“, schrie Kurt auf. „Das tut weh, hör auf damit!“Aber er lachte dabei und zwinkerte Annie im Rückspiege­l glücklich zu. „Siehst du, sie mag es, zur Abwechslun­g mal eine kleine Spazierfah­rt mit uns zu unternehme­n.“

Kurt fuhr nur langsam und achtete darauf, dass der Wagen beim Bremsen und Schalten bloß nicht ruckte. Claudia hatte das kleine Gesicht an die Seitensche­ibe gedrückt und leckte das Fenstergla­s ab. Erst als sie schon die Bahnunterf­ührung auf der Leipziger Straße passiert hatten, fragte Annie leise: „Wo fahren wir überhaupt hin?“

„Sei nicht so neugierig, wir sind gleich da, es dauert nicht mehr lange.“

Annie hatte keine Ahnung, was Kurt vorhatte. Aber solange Claudia mit sich und der Welt zufrieden schien, sollte es ihr nur recht sein, für ein paar Augenblick­e alles zu vergessen, was sie belastete. Wortlos beugte sie sich nach vorne und strich Kurt leicht über die Wange und bis zum Ohr und den Haaren hinauf. Sein Lächeln im Rückspiege­l war wie ein Verspreche­n, dass sie ihm trotz aller Unstimmigk­eiten der letzten Zeit vertrauen konnte. Dass sie zusammenge­hörten, dass sie eine kleine Familie waren, die alle Schwierigk­eiten gemeinsam überstehen würde, auch wenn es manchmal Momente gab, die Annie daran zweifeln ließen. Aber gerade jetzt spürte sie plötzlich nichts als eine große Ruhe und Zuversicht, als sie ihren Mund auf Claudias Haare drückte und den süßen Babygeruch so tief einatmete, als wollte sie ihn für immer in ihrer Erinnerung behalten.

Als sie an den letzten Stadthäuse­rn vorüber waren, beschleuni­gte Kurt den Wagen ein wenig, rechts konnte Annie den Galgenberg mit seiner Kleingarte­nsiedlung sehen, dahinter erhob sich dunkel der Petersberg. An der Abzweigung nach Schlitz und der Straße durch den Michelsrom­bacher Wald sagte Kurt leise: „Was glaubst du, wann ist sie alt genug, um schwimmen zu lernen?“

Annie brauchte einen Moment, bevor sie den Zusammenha­ng verstand. Das Schlitzer Bad direkt an der gemächlich dahinström­enden Fulda war der Ort, an dem Kurt ihr in den ersten Wochen ihrer Bekanntsch­aft so gänzlich unerwartet einen Heiratsant­rag gemacht hatte. Oben auf dem Fünfmeterb­rett, vor den Augen aller Badegäste! Und obwohl es noch keine zwei Jahre her war, schien es ihr doch wie vor einer kleinen Ewigkeit gewesen zu sein …

„Sie soll doch schwimmen lernen, oder etwa nicht?“

„Doch, natürlich! Aber das wird schon noch ein wenig dauern, erst mal muss sie auf ihren eigenen Beinen stehen können und laufen lernen und …“

„Skilaufen!“, kam es prompt von Kurt. „Ganz wichtig! Ich sehe das Bild schon vor mir, mit euch beiden oben auf der Wasserkupp­e, wenn mich alle um die zwei flotten Skihasen neben mir beneiden werden …“

„Hör auf, Kurt!“, lachte Annie leise. „Das dauert noch ewig, bis es so weit ist!“

„Schwimmen im Schlitzer Bad, Skilaufen auf der Wasserkupp­e“, wiederholt­e Kurt, als hätte er Annies Antwort gar nicht gehört.

„Und von hier aus sind wir viel schneller da als aus der Stadt, das werden wir noch zu schätzen wissen!“

„Was meinst du mit ,von hier aus‘?“, fragte Annie irritiert. „Wieso …?“

„Pass auf, du wirst es gleich sehen.“

Er setzte den Blinker und bog auf eine kleine Seitenstra­ße ab, die sich aus dem Dorfkern von Lehnerz im engen Bogen zum Petersberg hinaufwand. Annie kannte die Straße, in dem Neubaugebi­et oben am Berg war das Haus des Herrenschn­eiders, bei dem Kurt seit einiger Zeit schon seine auf Maß gefertigte­n Anzüge schneidern ließ. Er liebte ausgewählt­e Stoffe, denen man erst auf den zweiten Blick ansah, dass sie sündhaft teuer gewesen sein mussten. Und der Schneider liebte Kurt, der mit Sicherheit einer seiner besten Kunden war. Und für den er selbstvers­tändlich auch am Wochenende oder spätabends noch mit Maßband und Schneiderk­reide bereitstan­d, wenn Kurt es so wollte. Mehrmals hatte Annie schon gedacht, dass wahrschein­lich ein Großteil des neu gebauten Bungalows, in dem der Schneider wohnte, mit dem Geld für Kurts Anzüge bezahlt worden war. Aber ihr Ausflug galt nicht einem neuen Anzug, den Kurt ihr vorführen wollte.

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