„Ich hatte zehn Schutzengel“
Claire Faber spricht über ihren fürchterlichen Unfall und ihren Weg zurück auf das Fahrrad
Den 28. April 2021 wird Claire Faber so schnell nicht vergessen. Die talentierte Radfahrerin verletzte sich an diesem Tag bei einem Trainingsunfall schwer. Die 22-Jährige kollidierte bei hoher Geschwindigkeit mit einem Auto und zog sich unzählige Knochenbrüche (Wirbel, Kiefer, Rippen, Schlüsselbein) zu. Faber weiß: Der Helm und ein wenig Glück haben ihr das Leben gerettet.
Claire Faber, selten drängte sich eine Frage so auf: Wie geht es Ihnen?
Eigentlich gut, oder zumindest besser. Die vergangenen Wochen waren schwierig. Aber ich bin ein positiver Mensch und lasse mich nicht unterkriegen. Dafür bin ich zu sehr vom Radsportfieber befallen. Der Sport ist ein Lebensstil. Ich muss die Situation einfach so annehmen, wie sie jetzt ist. Der vollständige Genesungsprozess wird noch dauern. Das ist das eigentliche Problem: Ich bin ungeduldig, dabei ist Geduld gefragt. Das nervt und kann frustrieren. Dennoch bin ich nicht entmutigt.
Rund sechs Wochen sind seit Ihrem fürchterlichen Unfall vergangen. Konnten Sie den Vorfall mental verarbeiten?
Bei solch dramatischen Vorfällen entwickelt der Körper ganz eigene Schutzmechanismen. Ich kann mich an rein gar nichts erinnern. Ich weiß nicht einmal mehr, dass ich an dem besagten Tag Fahrrad gefahren bin. Am Abend habe ich anscheinend im Krankenhaus meine Eltern angerufen. Auch davon weiß ich nichts. Das liegt wohl an den starken Schmerzmitteln. In meiner Wahrnehmung hat der 28. April zehn Minuten gedauert. Es ist ganz gut, dass ich mich an nichts erinnere. Das macht es einfacher.
Wie kam es zu dem Zusammenprall mit dem Auto?
Der Unfall ereignete sich in der Abfahrt vom Kayler Poteau Richtung Esch/Alzette. Ein Autofahrer ist aus einer Nebenstraße nach links auf die Hauptstraße abgebogen und hat mich dabei übersehen. Es war einfach ein Unglück. Ich muss aber ganz klar sagen, dass die Stelle nur sehr schwer einzusehen ist. Hecken behindern die Sicht. Auch ein Haus steht so, dass man schon weit nach vorne fahren muss, um sich zu vergewissern, ob Verkehr herrscht oder nicht. Für den Autofahrer war die Situation auch nicht einfach. Er hat sofort den Notarzt gerufen. Das war wichtig. Ich will betonen, dass weder er noch ich zu schnell waren. Ich war in der Abfahrt mit 50 Stundenkilometern unterwegs. Im Training gehe ich keine unnötigen Risiken ein, schon gar nicht wenige Tage vor dem wichtigen Festival Elsy Jacobs.
Welche Blessuren trugen Sie davon?
Mein Kiefer war gebrochen und musste mit zwei Metallplatten und acht Schrauben fixiert werden. Auch im rechten Schlüsselbein sitzt eine Metallplatte mit sechs Schrauben. Drei Rippen habe ich mir auch gebrochen, genau wie die Querfortsätze einiger Wirbel. Rippen und Wirbel heilen von selbst und wachsen wieder zusammen. Ich musste lediglich eine Halskrause tragen. Das war aber noch nicht alles: Das Anfangsstadium eines Pneumothorax sowie Kopfverletzungen und eine Wunde am Hals kamen hinzu.
Welches Ausmaß hatten die Verletzungen am Kopf?
Sie waren das ernsthafteste Problem. Ich hatte eine Hirnblutung und einen minimalen Riss im
Kopf, ganz zu schweigen von einer heftigen Gehirnerschütterung.
Das alles klingt nach akuter Lebensgefahr ...
Ja, so war es auch. Ich hatte zehn Schutzengel. Die Ärzte waren zu Beginn nicht besonders optimistisch. Ich sah wohl auch schlimm aus. Ich blutete aus dem Mund und aus dem rechten Ohr. Es sah zunächst so aus, als ob ich aus dem Kopf bluten würde.
Ist der untere Teil Ihres Körpers heil geblieben?
Ja. Und ich verstehe das auch nicht ganz. Ich habe keine äußeren Blessuren an den Knien, an der Hüfte und an den Beinen. Ich muss voll mit dem Kopf und dem Oberkörper gegen das Auto geprallt sein.
Glücklicherweise trugen Sie einen Helm ...
Ohne Helm wäre ich jetzt tot. Das ist ganz klar. Mein Helm ist in 100 Stücke zerbrochen und hatte richtige Dellen. Es ist fast schon ein Wunder, dass ich noch da bin. Wie bereits gesagt: Mehrere
Claire Faber vergeht das Lachen nicht so schnell.
Schutzengel müssen auf mich aufgepasst haben.
Sie wurden sofort ins Krankenhaus gebracht. Wie viele chirurgische Eingriff gab es seitdem?
Freitags wurden der Kiefer und das Schlüsselbein operiert. Beim Kopf, den Rippen und den Wirbeln muss man Geduld und Zeit aufbringen. Der Kopf ist besonders heikel. Niemand kann einem genau sagen, wie lange der Heilungsprozess dauert. Das ist schwierig und geht an die Moral. Es ist anders als bei einer Schlüsselbeinfraktur: Da kann man nach sechs Wochen wieder Vollgas geben. Insgesamt war ich fünf Tage in der Reha und fünf Tage in stationärer Behandlung.
Ist der Heilungs- und Genesungsprozess bislang nach Plan gelaufen?
Nicht ganz. Der Kiefer machte Probleme und entzündete sich.
Die Platten und Schrauben kamen schon nach fünf Wochen wieder raus. Eigentlich sollten sie sechs Monate drinbleiben. Ansonsten ist alles in Ordnung. Nach dem Unfall konnte ich fast nichts auf dem rechten Ohr hören. Das ist aber deutlich besser geworden. Ansonsten besuche ich drei Mal pro Woche den Physiotherapeuten. Mein Osteopath sagt mir, ich müsse erst einmal den Schock aus meinem Körper bekommen. Gewebe und Knochen haben sich verkrampft. Auch das ist ein Schutzmechanismus.
Verliert man nach solch einem dramatischen Sturz nicht die Lust am Radsport?
In den ersten vier Wochen nach dem Vorfall wollte ich nichts vom Radfahren wissen. Es hat mich genervt, dass ich im Training viel investiert hatte und jetzt, da die gute Form im Anflug war, alles so plötzlich vorbei war. Ich muss wieder bei Null anfangen. Ich will allerdings nicht jammern. Denn: Es hätte schlimmer enden können. Jetzt fängt es wieder an zu kribbeln. Als ich neulich meiner Mutter sagte, ich bräuchte einen neuen
In meiner Wahrnehmung hat der 28. April zehn Minuten gedauert.
Ich dachte, es würde sich niemand für einen Sturz von Claire Faber interessieren.
Helm, ist sie ganz blass geworden. Ich verstehe das. Für meine Eltern waren die Tage nach dem Unfall schwieriger als für mich. Ich bekam nicht viel mit. Sie allerdings malten sich das Schlimmste aus, weil sie mich zunächst nicht besuchen durften und nur wenige Informationen erhielten.
Wie sehen die Planungen für die nächsten Wochen aus? Saßen Sie schon wieder auf einem Fahrrad?
Ich habe seit dem Unfall gar keinen Sport gemacht. Ich lag und saß fünf Wochen zu Hause rum. Das ist nichts für mich. Ich weiß nicht wohin mit meiner Energie. Ich bin recht viel spazieren gegangen. Das hat gut getan. Ansonsten habe ich alles bei Netflix gesehen, was es zu sehen gibt. Ich will bald mein Fahrrad nehmen, um beispielsweise zum Physiotherapeuten zu fahren. Ich möchte es ganz gemächlich angehen. Die Kopfverletzungen bleiben das Hauptproblem. Die Hitze und grelles Licht sind nicht förderlich. Ich will nichts überstürzen. Wir werden sehen, wie schnell sich mein Zustand tatsächlich verbessert.
Wird man Sie in diesem Jahr noch einmal bei einem Rennen sehen?
Wir haben uns das WM-Einzelzeitfahren in Belgien (20. September) als Ziel gesetzt. Vielleicht bekomme ich das hin, vielleicht auch nicht. Ich brauche jedenfalls ein Ziel, das ich anpeilen kann.
Wie viel Zuspruch und Aufmunterungen haben Sie unmittelbar nach dem Sturz erhalten?
Es waren gefühlte 200 Nachrichten und zwar auch von Leuten, die nicht aus dem Radsportmilieu kommen. Das hat mich gefreut.
Ich war wirklich überrascht. Ich dachte, es würde sich niemand für einen Sturz von Claire Faber interessieren. In meiner Heimat Rümelingen habe ich meine Erlebnisse bestimmt schon 30 Mal geschildert. Jetzt weiß jeder Bescheid. Ich kann wieder unbeschwert zum Bäcker gehen (lacht).