„Auf sich allein gestellt“
Opposition sieht sich durch den Waringo-Bericht bestätigt
„Familienministerin Corinne Cahen (DP) hat sich nichts vorzuwerfen.“Zu diesem Schluss kam der liberale Fraktionsvorsitzende Gilles Baum gestern nach der Vorstellung des Waringo-Berichts zur Situation in den Alten- und Pflegeheimen. Den Vorwurf, dass die Empfehlungen des Ministeriums nicht präzise genug seien, lässt Baum so nicht gelten.
Die Vorgaben vom Frühjahr und vom Sommer hätten auch im Herbst, als die Infektionszahlen wieder hochschnellten, noch Gültigkeit gehabt: „Die einzelnen Häuser waren zu keinem Zeitpunkt auf sich allein gestellt.“Darüber hinaus verfüge jede Heimleitung über genügend professionelles Fachwissen: „Sie wussten genau, was zu tun war.“Auch habe der Kontakt zwischen den Ministerien, den einzelnen Häusern und dem Dachverband Copas gut funktioniert.
Zwar stellten sich auch die Vertreter von LSAP und Grünen hinter die Familienministerin, doch ihre Einschätzung des WaringoBerichts fiel etwas nuancierter aus. Der Fraktionsvorsitzende der LSAP, Georges Engel, relativierte. Im Nachhinein sei man natürlich immer schlauer: „Die Politiker haben sicherlich die Entscheidungen getroffen, allerdings auf Basis der jeweils vorliegenden Erkenntnisse. Es wurde nicht falsch reagiert“, so Engel.
Josée Lorsché (Déi Gréng) bewertete den Bericht als „solide Basis, auf der wir weiter arbeiten können“. Das Dokument habe gezeigt, dass die Mitarbeiter in den einzelnen Häusern ihr Bestes gegeben hätten, damit „die Bewohner möglichst unbeschadet durch die Pandemie kommen“.
Für Lorsché muss sich die Politik nun allerdings Gedanken darüber machen, wie man die Altenund Pflegeheime aufstellen kann, damit sie in Zukunft nur noch einen Ansprechpartner haben. Da aktuell neben dem Familienministerium auch das Gesundheitsministerium zuständig sei, gebe es bei der Verantwortung eine gewisse Grauzone, die dazu führe, dass „die Häuser nicht unbedingt wissen, wo sie dran sind und wer der eigentliche Ansprechpartner ist“. Langfristig dränge sich eine Lösung dieses Problems auf.
Dass die Empfehlungen im Herbst nicht verschärft wurden, hält Lorsché zwar nicht für optimal, doch es habe zu jedem Zeitpunkt Regeln gegeben und die Häuser hätten Eigenverantwortung gezeigt.
Kritik von der Opposition
Die Opposition kam nach der Präsentation erwartungsgemäß zu einem völlig anderen Schluss. Die Sprecher von CSV, ADR, Déi Lénk und Piraten sehen Familienministerin Corinne Cahen ausnahmslos in der Verantwortung. „Fest steht, dass die Verantwortlichen in den einzelnen Einrichtungen ihr Bestes getan haben. Es steht aber auch genau so unumstößlich fest, dass es für die Häuser keine Klarheit gab“, resümierte die Co-Fraktionschefin der CSV, Martine Hansen.
Der Bericht zeige eindeutig, dass die Empfehlungen des Familienministeriums unklar und unpräzise gewesen seien: „Die einzelnen Seniorenhäuser waren auf sich allein gestellt.“Außerdem sei im Sommer, als das Infektionsgeschehen sich vorübergehend beruhigt hatte, kein Krisenplan erstellt worden, so ihr Vorwurf. Für Hansen steht auch außer Frage, dass es viel zu lange gedauert hat, bis klare Anweisungen ergingen, dass das Personal sich entweder impfen oder testen lassen müsse.
Zu den politischen Konsequenzen, sprich zu dem im April geforderten Rücktritt der Familienministerin,
wollte sich Hansen gestern nicht äußern. Zunächst werde sie den Bericht im Detail analysieren.
Keine Strategie und kein Konzept Ihr Parteikollege Michel Wolter, der die Debatte mit seiner Motion im April überhaupt erst angestoßen hatte, war gestern bei der Vorstellung des Berichts wegen kommunaler Verpflichtungen nicht anwesend. Auf Nachfrage sieht er sich nach einer ersten Lektüre zumindest teilweise bestätigt. Der Bericht zeige klar, dass die „Empfehlungen sehr vage waren“, „dass die Häuser nicht ordentlich begleitet wurden“, dass „zwischen August und Oktober überhaupt nichts passiert ist“, dass „im Sommer, als es ruhig war, keine nationale Strategie ausgearbeitet wurde“und „dass es kein klares Konzept gab“. Statt sich einfach auf Empfehlungen zu verlassen, hätte das Ministerium seiner Meinung nach Verordnungen erlassen müssen, und zwar auf der Basis des ASFT-Gesetzes.
Wolter begrüßt den Vorschlag von Jeannot Waringo, dass die Verantwortlichkeit für die Alten- und Pflegeheime ganz in die Hände des Gesundheitsministeriums überführt werden soll. „Letztendlich bestätigt der Bericht, dass das Familienministerium nicht funktioniert hat“, meint Wolter. Das Dokument sei eine „Bestätigung dessen, was die vier Oppositionsparteien im April gesagt haben“.
Sven Clement von den Piraten sieht es ganz ähnlich. „Der Bericht macht deutlich, dass das Familienministerium sich im Verlauf der Pandemie mehr und mehr aus der Verantwortung geschlichen hat. Das Gesundheitsministerium musste in die Bresche springen, dies obwohl es eigentlich gar nicht zuständig ist.“Clement spricht sogar von einer „Arbeitsverweigerung“seitens des Familienministeriums. „Familienministerin Cahen steht ohne Wenn und Aber in der Verantwortung.“Ob seine Partei an der Rücktrittsforderung festhält, will Clement von den Antworten abhängig machen, die Ministerin Cahen heute bei der parlamentarischen Debatte liefert.
Auch Fred Keup von der ADR äußerte Unverständnis, dass einige Empfehlungen ohne Signatur und ohne Datum herausgegeben wurden. „Familienministerin Cahen war nicht auf der Höhe, so wie sie es hätte sein müssen“, so der ADR-Abgeordnete.
Auch Myriam Cecchetti (Déi Lénk) kritisiert die unpräzisen Empfehlungen, die zu allem Übel nicht verschärft wurden, als im Herbst die zweite Welle über das Land hinwegfegte.
Die einzelnen Seniorenhäuser waren auf sich allein gestellt. Martine Hansen
Letztendlich bestätigt der Bericht, dass das Familienministerium nicht funktioniert hat. Michel Wolter