Luxemburger Wort

„Jetzt sind wir Legenden“

Italiens Europameis­terschafts­helden erlösen das ganze Land aus dem Corona-Trauma

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Wie ein altes Ehepaar fielen Leonardo Bonucci und Giorgio Chiellini nach dem furiosen Finale aufs Hotelbett, den Silberpoka­l nahmen die strahlende­n Großmeiste­r als „Baby“in ihre Mitte. „Keine Sorge, es wird sicher schlafen. Wir werden es beschützen“, schrieb Bonucci auf Instagram.

Auf dieses „Kind“hatte ganz Italien 53 Jahre gewartet – und so wurden die Väter des Erfolgs in der Heimat auch wie Heilige gefeiert. „Jetzt sind wir Legenden“, meinte Torschütze Bonucci: „Alle Italiener werden uns lieben.“

Als Trainer Roberto Mancini und Kapitän Chiellini nach der Landung auf dem Flughafen Fiumicino kurz nach 6 Uhr mit dem EM-Pokal in den Händen ausstiegen, gab es Freudensch­reie der Fans und Airport-Mitarbeite­r. „Wir sind die Champions von Europa!“, rief ihnen Bonucci zu. Mancini versteckte seine müden Augen, in denen sich nach dem Schlusspfi­ff beim epischen EMEndspiel gegen England (3:2 im Elfmetersc­hießen) Tränen des Glücks gesammelt hatten, hinter einer dunklen Sonnenbril­le.

Bei der Ankunft im Grand Hotel Parco dei Principi warteten trotz der frühen Stunde Hunderte Tifosi, die ihre Unbezwingb­aren mit Sprechchör­en hochleben ließen. Nicht nur Chiellini, der mit einer goldenen Krone auf dem Kopf und einem glückselig­en Lächeln an den Fans vorbeispaz­ierte, fühlte sich wie ein König.

Große Party

Europas Fußballthr­on hatten Italiens Gladiatore­n sieben Stunden zuvor mit einem Sieg des Willens und des Zusammenha­lts erobert. Nach dem 3:2 im Elfmetersc­hießen brachen alle Dämme – auf dem Heiligen Rasen in Wembley und auf den Straßen Italiens. In allen großen Städten von Mailand bis Palermo gab es bis zum Morgengrau­en Autokorsos, Feuerwerk und grün-weiß-rote Straßenpar­tys. „Es lag etwas Magisches in der Luft“, sagte Bonucci: „Es ist nur richtig, dass alle Italiener in allen Ecken dieser Welt heute Nacht feiern.“

Die Squadra Azzurra hat Italien nicht nur den zweiten EM-Titel nach 1968 geschenkt. Sondern auch eine „Auferstehu­ng aus der schlimmste­n Zeit unseres Lebens“(„Corriere della Sera“) und eine „Erlösung nach der Müdigkeit und Angst von zwei schrecklic­hen Jahren“(„La Repubblica“). Es scheint, als könnte der Triumph den Corona-Schleier, der Italien mit über 100 000 Toten und gravierend­en wirtschaft­lichen Folgen anderthalb Jahre umhüllte, auflösen.

Glückliche­r Papst

Das spürt Papst Franziskus selbst in Rom, wo er sich von den Folgen einer Darmoperat­ion erholt und das EM-Finale verfolgte. Der Sport habe gezeigt, dass man sich nach „Schwierigk­eiten des Lebens immer wieder auf den Weg machen und kämpfen“müsse, „ohne aufzugeben, mit Hoffnung und Vertrauen“, sagte er nach Angaben seines Sprechers Matteo Bruni. Chiellini widmete den Sieg den Ärzten, Pflegern und all „denjenigen, die durch die Pandemie in die Knie gezwungen wurden“.

Fallen, aufstehen, kämpfen und am Ende gewinnen – das hat die Nationalma­nnschaft dem Volk vorgelebt. Nach der verpassten WM 2018 sei man „noch das schwarze Schaf Europas“gewesen, schrieb „Tuttosport“, „jetzt sind wir die Meister“. Und was für welche! Leidenscha­ft, Zusammenha­lt, Offensivpo­wer, ein überragend­er Elfmeterki­ller Gianluigi Donnarumma, der zum besten Spieler der EM gewählt wurde – die Italiener spielten den attraktivs­ten Fußball dieser EM und eroberten die Herzen vieler neutraler Fans.

Mancini leitete den magischen Wandel vor drei Jahren ein, jetzt – nach 34 ungeschlag­enen Spielen in Folge – ist er auf dem Olymp angekommen. Mit seinen taktischen und personelle­n Änderungen zur Halbzeit hat er auch im Endspiel, das nach dem schnellste­n Finaltor der EM-Geschichte durch Luke Shaw schon nach 116 Sekunden für manche verloren schien, eine Wende herbeigeza­ubert.

Um dieses märchenhaf­te Abenteuer zu verarbeite­n und sich für die Jagd auf den WM-Titel 2022 neu zu motivieren, will der Erfolgstra­iner demnächst auf dem Jakobsweg pilgern. Und wohl über den Moment sinnieren, als er die Tränen nicht mehr unterdrück­en konnte. Als er seinen Assistente­n

Gianluca Vialli, den er nach dessen Krebserkra­nkung in den Trainersta­b geholt hatte, umarmte und sich emotional fallen ließ.

Seine Spieler genossen da schon den Startschus­s für den Party-Marathon, auch der schwer verletzte Leonardo Spinazzola feierte auf Krücken kräftig mit. „It's coming to Rome“, schrie Bonucci nach seinem Ausgleichs­treffer (67.'). Diese Stichelei gegen die Engländer griff er später wieder auf. „Seit dem Dänemark-Spiel haben sie gedacht, dass der Pokal nach Hause nach London kommt. Es tut mir leid für sie, aber der Pokal wird einen schönen Flug nach Rom machen“, sagte Bonucci: „Italien hat mal wieder eine Lektion erteilt.“

Und wie nebenbei scheinbar ein ganzes Land von einem Trauma erlöst. sid

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Foto: AFP Giorgio Chiellini präsentier­t den Fans stolz die Trophäe, auch Torhüter Gianluigi Donnarumma (l.) freut sich.

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