Wenn Raupen zu Schmerzen führen
Josette, eine schöne ältere Langhaarkatze, riss sich seit einigen Tagen büschelweise Fell aus. Als das sonst gutmütige Tier vor lauter Stress auch noch anfing grantig zu werden und fast nicht mehr fressen wollte, brachte man sie zur Sprechstunde. An Haut und Haaren war auch mit mikroskopischer Untersuchung und bei Beleuchtung mit spezieller UV-Lampe keine Ursache für ihr Verhalten zu finden. Was nicht weiter überraschte, da bei Katzen sehr häufig fast immer aus anderen Gründen als Pathologien der Haut oder des Fellkleides Haare im großen Stil ausgerissen werden. Die Gründe rangieren von psychisch fundierter Trichotillomanie (Haarausreiß-Tic) bis zu unerträglichen Zahnschmerzen. Josette war keine Ausnahme.
Von Beginn an war aufgefallen, dass die Katze ihr Mäulchen nicht richtig geschlossen hielt und ein wenig Speichel verlor. Zur genaueren Inspektion ihrer Mundhöhle musste sie allerdings sediert werden. Beim Blick in ihr Mundinneres wurde die Ursache ihres Problems
klar: Die Zunge der Samtpföterin war durch eine hochgradige Entzündung (Glossitis) verdickt und gerötet. Der gesamte vordere Bereich war mit Bläschen und Ulzera besetzt. Gerade bei Katzen treten häufig schwer zu therapierende oder behandlungsresistente Erkrankungen der gesamten Mundschleimhaut auf, die meist auch die Zunge befallen.
Die Verursacher sind in diesen Fällen meistens viraler oder immunologischer Natur. Da bei Josette jedoch die übrige Mundschleimhaut und das Zahnfleisch ohne krankhaften Befund waren, standen wir vor einem Rätsel. Bis die Besitzerin erwähnte, bei einem Nachbarn sei vor Kurzem eine Kolonie Eichenprozessionsspinner von einem Baum entfernt worden. Offenbar waren einige Flusen der brennhaarigen Raupen, die mit hohen Dosen des Giftes Thaumetopoetin tausendfach schlimmeren Schaden anzurichten vermögen als die Blätter von Brennnesseln, ans Fell der Patientin gelangt, von wo diese sie aufgrund ihres Putztriebs abschleckte. Nach einigen Tagen Hospitalisation, während derer Josette mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln, Antibiotika und Medikamenten gegen die Entzündung behandelt und zur Vermeidung eines lebensgefährlichen Fettlebersyndroms mit Nasenschlundsonde künstlich ernährt werden musste, konnte sie in häusliche Pflege entlassen werden.