Wie der Putschversuch die Türkei spaltet
Der Aufstand von Teilen des Militärs wurde niedergeschlagen – doch viele Fragen sind noch offen
Istanbul. Tieffliegende Kampfjets, Bomben auf das Parlament in Ankara und Panzer auf den Straßen – am 15. Juli 2016 putschten Teile des türkischen Militärs gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan. In Istanbul und der Hauptstadt Ankara gab es schwere Gefechte zwischen Soldaten und regierungstreuen Sicherheitskräften. Erdogan selbst entkam nur knapp einem Attentat an seinem Urlaubsort Marmaris. Die Putschisten gingen brutal vor und feuerten mit Panzern und Kampfjets auch auf Zivilisten, die sich ihnen nach einem Aufruf Erdogans entgegenstellten. In der Nacht gab es mehr als 250 Todesopfer und mehr als 2 000 Verletzte.
Der Putschversuch hat viel Leid über die türkische Bevölkerung gebracht. Und er wirkt immer noch nach. Fünf Jahre später sind noch viele Fragen offen und die Gesellschaft polarisiert. Die türkische Führung macht den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen, einen früheren Verbündeten Erdogans, für den Umsturzversuch verantwortlich. Der streitet das ab. Wer in der Putschnacht Mittäter war und wer
Opfer, das sollten auch Gerichte klären. Tausende Menschen wurden in Putschprozessen verurteilt.
Seit dem Umsturzversuch wurden Zehntausende mutmaßliche Putschisten und Gülen-Anhänger verhaftet. Mehr als 100 000 Staatsbedienstete wurden entlassen. Immer wieder bringt der türkische Geheimdienst auch mutmaßliche Gülen-Anhänger unter ungeklärten Umständen aus dem Ausland zurück. Ein Vorgehen, das Menschenrechtsorganisationen scharf kritisieren.
Die Razzien trafen aber auch Regierungskritiker. Erdogan, der den Putschversuch als „Segen Gottes“bezeichnete, verhängte einen Ausnahmezustand, der zwei Jahre lang andauerte. Damit habe Erdogan die Weichen neu gestellt, kritisiert Sezgin Tanrikulu, Abgeordnete der größten Oppositionspartei CHP.
Statt die Demokratie zu stärken, habe der Präsident eine autoritäre Führung gefestigt.
Tanrikulu, der Mitglied der Untersuchungskommission zum Putschversuch war, wirft der AKP auch vor, eine vollständige Aufklärung verhindert zu haben. Der türkische Geheimdienst hatte der Kommission zufolge schon am Nachmittag des 15. Juli einen ersten Hinweis aus der Armee für eine bevorstehende Aktion erhalten. Ein Grund, warum die Putschisten den für die Nacht geplanten Umsturzversuch auf den Abend vorzogen, so die offizielle Darstellung.
Tanrikulu kritisiert, dass entscheidende Staatsbedienstete wie der damalige Generalstabschef und heutige Verteidigungsminister Hulusi Akar und Geheimdienstchef Hakan Fidan nicht vor der Kommission aussagten. Unklar sei auch, wie die Gülen-Bewegung den Staatsdienst unterwandern konnte und welche Beziehungen zur Politik bestünden.
Noch im Ausnahmezustand hatte Erdogan 2017 ein Verfassungsreferendum durchgesetzt, mit dem er ein Präsidialsystem einführte. Seitdem hat er so viel Macht wie nie zuvor. Erdogans Umfragewerte sanken zuletzt, doch der Druck auf die Opposition ist nach wie vor groß. Der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP etwa droht ein Verbot.
Erdogan weist Kritik am Vorgehen der türkischen Behörden immer wieder entschieden zurück. Den Putschversuch bezeichnete er erst kürzlich als einen der „größten Verratsversuche“in der Geschichte der Türkei. Die Gülen-Organisation habe ihn ausgeführt, aber mit einem viel größeren Netzwerk dahinter. dpa