Luxemburger Wort

Die Dame vom Versandhan­del

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Galant führte Kurt sie zu ihrem Platz zurück und versprach, auf sie zu warten, als sie zur Toilette ging, um sich ein wenig frisch zu machen, den Lippenstif­t nachzuzieh­en, die vom Tanzen in Unordnung gekommene Frisur zu richten.

Ihr Traum war wie ein Film gewesen, der sie noch einmal das Glücksgefü­hl dieses Abends nachempfin­den ließ, als würde es gerade jetzt geschehen. Aber dann kam sie zurück in den Ballsaal, und Kurt war nicht mehr an seinem Platz, sondern tanzte mit einer fremden Frau, und eigentlich war es schon kaum noch als Tanz zu bezeichnen, wie sie sich aneinander­klammerten und lasziv hin und her schoben, ganz alleine auf der Tanzfläche, so dass alle sehen konnten, wie Kurt seine Lippen an ihrem bloßen Hals hatte, während seine Hände ihren Po unter dem eng anliegende­n Kleid umspannten. Erst als die Musik endete, lösten sie sich voneinande­r – und das Kleid umspannte nicht nur den Po der Frau, sondern auch den hochschwan­geren Bauch, den sie vor sich hertrug …

„Wenn es ein Junge wird, soll er Jürgen heißen“, verkündete Kurt in die plötzliche atemlose Stille hinein. „Und ich bin mir sicher, dass es ein Junge wird, damit er später mal Eulendorf übernehmen kann.“

Der Traum hatte Annie so durcheinan­dergebrach­t, dass sie sich selbst eine Idiotin schalt. Auch bei dem kurzen Telefonges­präch, das sie am Morgen mit Kurt führte, hatte sie immer noch das Gefühl, vollkommen neben sich zu stehen, nur mit Mühe gelang es ihr, sich auf Kurts Fragen zu konzentrie­ren: „Nein, Kurt, mach dir keine Sorgen, Claudia und mir geht es gut. Aber wir können nicht einfach so tun, als gäbe es diesen Brief von Fritz nicht. Es geht uns beide etwas an, und wir müssen das klären, nur deshalb bin ich gefahren. Ich spreche mit dem Jungen auf der Insel und mit der Internatsl­eitung, um herauszube­kommen, was da eigentlich los ist. Am Nachmittag nehmen wir das Schiff zurück zum Festland und fahren dann direkt nach Hause. Ja, ich weiß, dass es eine lange Strecke ist, aber … Was? Was sagst du? Natürlich, wenn ich müde bin, übernachte­n wir noch mal. Aber du wirst es nicht glauben, Claudia scheint Autofahren zu lieben! Sie hat die ganze Zeit über entweder geschlafen oder neugierig umhergeguc­kt. Sie ist wirklich ein echter Schatz. Vielleicht haben wir die schlimmste Zeit ja auch hinter uns, und es wird alles einfacher. Ich wünsche es uns so sehr, dass wir wieder … zu einem Leben zurückfind­en, mit dem es uns allen gut geht. Aber dazu gehört auch, dass wir diese Sache mit dem Brief klären, sonst macht es uns nur unnötig verrückt, das weißt du. Mach dir keine Sorgen“, wiederholt­e sie. „Ich freue mich darauf, dich heute Nacht noch oder spätestens morgen wiederzuse­hen, und Claudia freut sich auch und schickt dir tausend kleine Küsse. Aber jetzt muss ich aufhören, damit wir das Schiff nicht verpas- sen! Denk immer daran, dass wir dich lieben …“

Von ihrem Besuch bei Borgward erzählte sie nichts, ebenso wenig wie von den Gedanken, die sie sich gemacht hatte. Immer einen Schritt nach dem anderen, dachte sie, sonst landen wir unausweich­lich in einer Sackgasse, aus der wir nicht mehr herauskomm­en.

Spiekeroog empfing sie mit strahlende­m Sonnensche­in, über der ganzen Insel schien eine Ruhe und ein Frieden zu liegen, wie Annie

es schon lange nicht mehr gespürt hatte. Es war vor allem das Licht, das sie begeistert­e, die klare Luft, das Vogelgezwi­tscher in den Hecken und Bäumen der schmalen Dorfstraße, das entfernte Rauschen des Meeres. Und die geduckten Fischerhäu­ser, deren reetgedeck­te Dächer bis fast auf den Boden reichten, versprache­n eine Geborgenhe­it, die Annie unwillkürl­ich eine leise Sehnsucht empfinden ließ – es musste schön sein, hier zu leben, weit weg von allem Trubel und Lärm der Städte mit ihrem Autoverkeh­r und den Menschen, die rastlos von etwas getrieben wurden, was sich doch nie erfüllen würde. Es ist so schön hier, dass es fast unwirklich ist, dachte sie und stellte verwundert fest, dass sie für den Moment noch nicht mal die Berge und die Wälder der Rhön vermisste, die sie doch so sehr liebte.

Zwischen den Katen der Fischer gab es neu gebaute Ferienpens­ionen aus roten Klinkerste­inen, mit grün gestrichen­en Fensterrah­men und Türen, und mit verglasten Frühstücks­räumen, die bis dicht an den Weg reichten. Jedes Haus hatte seinen eigenen Namen: „Sturmwind“, „Strandidyl­l“, „Seestern“, „Fallen Anker“– das Meer war ebenso allgegenwä­rtig wie die Möwen, die hoch oben am Himmel kreischend ihre Kreise zogen.

Ein weiß getünchtes Hotel bestimmte mit der knorrigen Linde am Eingang den kleinen Dorfplatz. Als Annie die stämmige Frau, die gerade ihr Fahrrad an den Zaun lehnte, nach dem Weg zum Internat fragte, erntete sie einen irritierte­n Blick, der gleich darauf zu der Frage führte: „Haben Sie etwa vor, das Kind bis dahin zu tragen? Nee, das vergessen Sie mal gleich wieder, die Internatss­chule ist nicht im Dorf, Sie müssen bis fast zum Inselende, das ist viel zu weit! Aber warten Sie, ich gebe Ihnen einen von unseren neuen Bollerwage­n, da können Sie die Kleine reinsetzen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand die Frau durch die Gartenpfor­te, um gleich darauf mit einem Handwagen aus Holz und mit einer einfachen Deichsel zum Ziehen zurückzuke­hren. „Haben wir gerade erst angeschaff­t, damit die Eltern ihre Lütten zum Strand ziehen können. Aber passen Sie auf, dass Sie nicht in den Sand von der Pferdespur kommen, dann stecken die Dinger schnell fest. Auf dem Rückweg stellen Sie ihn einfach hier wieder ab.“

Als Annie sich bedankte, lautete die Antwort nur: „Da nicht für.“Als wäre jedes weitere Wort bloße Verschwend­ung. Unwillkürl­ich zog Annie einen Vergleich zu den Menschen in Fulda, niemand hätte ihr dort den Karren einfach so überlassen, und vor allem ganz sicher nicht ohne neugierige Fragen, was sie im Internat zu tun habe, wer sie sei und wo sie herkäme…

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