Wahl im Würgegriff
Kreml-Partei Einiges Russland muss laut Hochrechnungen Federn lassen – Oppositionelle beklagen Wahlbetrug
Das Klebeband, mit dem der Safe für die Stimmzettel versiegelt war, sei in der Nacht abgerissen und schräg wieder aufgeklebt worden. „Unsere Beobachter haben es morgens entdeckt. Ich war gerade in dem Wahllokal, Nummer 920, der Safe hätte erst um acht Uhr heute Abend geöffnet werden dürfen,“erklärt Aljona Popowa mit sachlichem Gesicht. „Wir fordern, dass die Wahlen dort für ungültig erklärt werden.“Und gerade habe sie von den Leuten in ihrem Stab erfahren, dass gegen 14 Uhr mehr als 100 Prozent der registrierten Wähler an der elektronischen Abstimmung in ihrem Wahlkreis teilgenommen hätten.
Gestern endeten in Russland die dreitägigen Wahlen zur Staatsduma. Nach Auszählung von 8,9 Prozent der Protokolle stimmten 38,57 Prozent der Wähler für die Staatspartei Einiges Russland, 25,17 Prozent für die Kommunisten. Damit würden die „Einheitsrussen“gegenüber den Wahlen 2016 fast 16 Prozent verlieren, die Kommunisten fast zwölf Prozent zulegen. Putins Partei, bei jüngsten Wahlumfragen in der Wählergunst noch unter 30 Prozent, würde viel Federn lassen.
Die Fünf–Prozent-Hürde meisterten auch die etablierten DumaKräfte, die Liberaldemokraten mit 9,6 Prozent und „Gerechtes Russland für die Wahrheit“mit 6,66 Prozent. Ebenso die vergangenes Jahr gegründete Partei „Neue Leute“mit 7,89 Prozent. Sie gelten ebenso wie die anderen Parteien als kreml-treu. Trotzdem könnte das Ergebnis bedeuten, dass die Staatspartei ihre Zweidrittelmehrheit klar verliert.
Aber die endgültige Sitzverteilung war bei Redaktionsschluss noch ungewiss, die Hälfte der 450 Mandate wird in Direktwahlkreisen
vergeben, in vielen dauerte die Auszählung die gesamte Nacht. Und bei früheren Duma-Wahlen war auch der proportionale Anteil von Einiges Russland im Verlauf der Nacht enorm angewachsen …
Aljona Popowa, eine der bekanntesten Moskauer Feministinnen,
kandidierte als unabhängige Kandidatin für die liberale Jabloko-Partei im Ost-Moskauer Wahlkreis 205. Und sie war nicht die Einzige, die angesichts der Geschehnisse in den vergangenen drei Tagen von Betrug redete.
Wahlbeobachter, Journalisten und Wähler berichteten von den schon üblichen Verstößen wie Mehrfachwahl oder dem massenhaften Einwurf von Stimmzetteln und hielten diese oft auf Video fest. Dazu monierten sie fehlende Rückwände in den Nachtsafes für die abgegebenen Stimmzettel, auch Kugelschreiber mit auf Papier verschwindender Tinte.
Berichte über Wahlfälschungen
Und die Wählerrechtsgruppe Golos zählte gestern fast 4 000 Berichte über Wahlbetrug. Es gab Drohungen, tätliche Angriffe und zeitweise wurden ganze Wahllokale dichtgemacht. So ließen die Behörden in dem Dorf Alexandrowskaja bei Sankt Petersburg ein Wahllokal wegen Bombenalarms evakuieren, ein Unbekannter hastete mit einem Stapel Stimmzettel davon ... In Sankt Petersburg selbst geriet ein Stadtratskandidat in den Würgegriff der Polizisten, die er herbeigerufen hatte, weil 300 Stimmzettel verschwunden waren. Laut dem Portal „tayga.info“versuchte ein Pkw-Fahrer in der Region Nowosibirsk einen kommunistischen Wahlbeobachter zu überfahren, der Fahrer soll vorher Stimmzettel gekauft haben.
Der Staat bekämpfte auch die „Kluge Abstimmung“mit der Anhänger des inhaftierten Oppositionellen
Alexej Nawalny liberale Wähler gegen die Kandidaten der Staatspartei Einiges Russland aktivieren wollten. Auf Forderung russischer Zensurbehörden entfernten Google und Apple am Freitag eine App, dann Telegram einen Bot für die „kluge Abstimmung“, YouTube entsprechende Videoaufrufe der Nawalny-Anhänger. Allerdings waren Listen der von ihnen empfohlenen Gegenkandidaten gestern problemlos über die populäre russische Suchmaschine Yandex zu öffnen.
Ella Panfilowa, die Leiterin der Zentralen Wahlkommission, bezeichnete den Großteil der Verstöße als Fakes. Und sie klagte über „mächtige, noch nie da“gewesene Cyberattacken gegen ihre Behörde, 50 Prozent kämen aus den USA, 25 Prozent aus Deutschland. Man arbeite aber mehr oder weniger normal weiter. Und ihre Mitarbeiter präsentierten vor Journalisten das Video einer Wohnung, die staatsfeindliche Missetäter in ein Wahllokal umgebaut hätten, um dort weitere Fälschungsfakes zu filmen.
Straßenproteste gelten angesichts der zu erwartenden Repressalien auch bei einem unnatürlich hohen Sieg für Einiges Russland als unwahrscheinlich. Aber offenbar plant die Staatsmacht für alle Fälle Gegendemonstrationen. Das Portal „76.ru“meldete aus Jaroslawl, dort hätten sich am frühen Morgen Fabrikarbeiter am Bahnhof versammelt, um gegen ein Entgelt von über 110 Euro zu einer Kundgebung Richtung Moskau zu fahren.