Trudeau kämpft um politisches Überleben
Vor der Parlamentswahl in Kanada deuten Umfragen auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Liberalen und Konservativen hin
Die kanadische Bevölkerung entscheidet heute über ihre künftige Regierung und das politische Schicksal von Premierminister Justin Trudeau. Mit seiner Entscheidung, vorgezogene Neuwahlen auszurufen, obwohl dafür keine Notwendigkeit bestand, ging Kanadas liberaler Regierungschef ein hohes Risiko ein. Umfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Liberalen und Konservativen hin.
In der Endphase des Wahlkampfs versucht Trudeau gegen seinen konservativen Herausforderer Erin O'Toole mit seiner Pandemie-Politik und dem Klimaschutz sowie seinem Versprechen, für alle kanadischen Kinder bezahlbare Kindertagesstättenplätze finanzieren zu wollen, zu punkten. Die Wählerinnen und Wähler sollten jetzt an einem kritischen Punkt der Pandemie entscheiden, wie Kanada in der nächsten Phase des Kampfes gegen Covid-19 regiert werden solle.
Eine unnötige Wahl in Covid-Zeiten O'Toole dagegen fordert die Kanadierinnen und Kanadier auf, Trudeau für das nach seinen Worten und auch nach Einschätzung vieler Menschen überflüssige Ausrufen einer Parlamentswahl inmitten der vierten Covid-Welle zu bestrafen. Trudeau habe „allein aus Selbstinteresse“in einer gefährlichen Zeit eine überflüssige Wahl ausgerufen, die 600 Millionen Dollar koste.
Nach Ansicht politischer Beobachter entschied sich Trudeau im Frühsommer für vorgezogene Wahlen, weil er sich von ihnen eine Stärkung seiner liberalen Partei
im Parlament oder sogar eine absolute Mehrheit der Sitze erhoffte. Trudeaus Partei hatte in der Parlamentswahl im Oktober 2019 die vier Jahre zuvor errungene absolute Mehrheit der Sitze verloren und konnte nur eine Minderheitsregierung
bilden. Der Premierminister war auf die Unterstützung zumindest einer großen Oppositionspartei angewiesen. Tatsächlich erhielt er bei allen wichtigen Entscheidungen im Kampf gegen Covid-19 und zur Unterstützung kanadischer Familien eine ausreichende Zahl von oppositionellen Stimmen, so dass er regieren konnte.
Umfragen zeigen, dass bis zu drei Viertel der Wählerinnen und Wähler die Wahl für unnötig halten. Konservative und Liberale liegen jeweils zwischen 30 und 34 Prozent der Stimmen. Einige Umfragen sehen Trudeau knapp vorne, andere O'Toole. Wahlergebnisse sind in Kanada jedoch extrem schwer vorherzusagen, denn es kommt nicht darauf an, wer landesweit die meisten Stimmen erhält, sondern wer die meisten Wahlkreise gewinnt.
„O'Tooles Vision wird Kanada beim Klimaschutz und in der Wirtschaft zurückwerfen und auch in eine Zeit, in der Sturmgewehre in unseren Gemeinden legal waren“, attackiert Trudeau seinen Kontrahenten. Die Impfpolitik spielt in der Endphase des Wahlkampfs eine zunehmend wichtige Rolle. Dass in einigen Provinzen wie Saskatchewan und Alberta die Infektionszahlen in die Höhe schießen, nachdem die dortigen konservativen Regierungen Covid-Restriktionen schnell und teilweise komplett aufgehoben hatten, gibt Trudeau Munition für Angriffe auf die konservative Pandemie-Politik. Trudeau will Beamte und Angestellte des Bundes verpflichten, sich impfen zu lassen. O'Toole ist zwar ein Befürworter des Impfens, lehnt solche Verpflichtungen aber ab.
Minderheit von Impfgegnern
In Kanada hat sich eine kleine radikale Minderheit von Impfgegnern etabliert, die auch nicht davor zurückschreckt, die Einführung von Impfpässen mit dem gelben Stern zu vergleichen, den in der Nazi-Zeit die jüdische Bevölkerung tragen musste.
Als Partei, die gegen Verpflichtungen zum Impfen, gegen Lockdowns und Schutzmaßnahmen auftritt, findet die rechtspopulistische People's Party von Maxime Bernier einigen Zuspruch. Sie liegt in Umfragen bei sechs Prozent, sie hat damit keine Chance, einen Parlamentssitz zu gewinnen. Aber O'Toole muss fürchten, dass ihm diese Partei am rechten Rand der konservativen Wählerschaft Stimmen wegnimmt und Wahlkreise an andere Parteien gehen. Mitentscheidend für den Wahlausgang wird sein, ob die offenbar wiedererstarkte sozialdemokratische New Democratic Party von Jagmeet Singh den Liberalen Stimmen abnehmen wird und der Bloc Québécois von Ives-Francois Blanchet seine Mandatszahl in Québec halten kann. Die Grünen können sich nur Chancen auf einen einzigen Sitz ausrechnen.