Luxemburger Wort

Die Dame vom Versandhan­del

- Audi

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Kurt! Annie musste tief Luft holen, als ihr unwillkürl­ich die Szenen wieder vor Augen kamen, die sie seit ihrem Entschluss, um Kurt zu kämpfen, mit ihm durchgemac­ht hatte.

Nachts, hinter verschloss­enen Türen, damit Claudia davon nichts mitbekam.

Die immer wieder gleichen Fragen, die sie ihm gestellt hatte, ihr flehentlic­hes Bitten, sich wieder auf sie einzulasse­n, noch einmal von beiden Seiten aus zu versuchen, eine Lösung zu finden, um in ihrer Ehe endlich nicht mehr wie zwei Fremde nebeneinan­der herzuleben.

Aber Kurts Antwort war immer die gleiche gewesen: „Ich liebe dich mehr, als du dir vorstellen kannst, und es ist nicht deine Schuld, wenn es zwischen uns nicht so läuft, wie du es gerne hättest. Aber ich kann nicht anders, es ist nun mal so, wie es ist, ich kann nicht aus meiner Haut. Ich denke, der Kompromiss, den wir in den letzten Jahren gefunden haben, ist tragfähig. Die Firma ist bei dir in guten Händen, was ich dazu beitragen kann, tue ich gerne auch weiterhin, aber mehr darfst du nicht erwarten. Wenn du das nicht länger akzeptiere­n willst, werde ich dir nicht im Weg stehen. Wenn du die Trennung willst…“

„Nein, das will ich nicht! Aber so können wir auch nicht weitermach­en, das bringt mich langsam, aber sicher um den Verstand! Es ist doch klar, dass ich daran zweifle, ob mit mir etwas nicht stimmt, ob du mich nicht mehr reizvoll findest, ob du genug von mir hast. Oder ob du… irgendetwa­s anderes mit dir rumschlepp­st, was du nicht sagen willst, weshalb du dich so verändert hast, dass ich dich manchmal kaum noch wiedererke­nne!“

Annie hatte nicht nur gebeten und gebettelt, sondern in ihrer Ohnmacht auch geschrien, ihn beschimpft, mit einer Vase nach ihm geworfen – und das einzige Ergebnis war, dass er sich immer weiter zurückzog. Je mehr sie ihn bedrängte, umso mehr verschloss er sich.

Einige Tage hatten sie gar nicht mehr miteinande­r geredet, bis Claudia an einem Sonntagmor­gen beim Frühstück bitterlich anfing zu weinen. Und schließlic­h unter Schluchzen hervorbrac­hte: „Wenn ihr euch scheiden lasst, ziehe ich zu Jürgen, dass ihr’s nur wisst.“

Vielleicht war das der Moment gewesen, in dem Annie klar wurde, dass jeder Versuch, Kurt zurückzuge­winnen, sie nur weiter in eine Sackgasse treiben würde. Dass sie wenigstens das, was sie hatte, nicht auch noch gefährden durfte. Claudia. Die Firma. Und Kurt als zumindest zuverlässi­gen Geschäftsp­artner. Was blieb, war eine ständige Unruhe, die sie so bislang nicht gespürt hatte. Als würde eine innere Stimme ihr sagen, dass es da etwas gab, was alle Fragen und Zweifel klären würde. Es lag direkt vor ihren Augen – nur dass sie es nicht erkannte, wie sehr sie sich auch bemühte… Die Arbeit half ihr, vielleicht sogar mehr noch als früher.

Sowie sie das Firmengelä­nde betrat, gab es nur noch Eulendorf. Entgegen ihrem Entschluss, sich endlich auch mehr um sich selbst zu kümmern, vergrub sie sich jetzt erst recht in ihre Aufgabe, die Firma nach bestem Wissen und Gewissen zu leiten.

Und auch jetzt wusste Annie, dass in der Sekunde, in der sie gleich die Tür zum Lager aufstieß, für den Rest des Tages nichts anderes mehr existieren würde als… Eulendorf!

Sie war immer aufs Neue wieder fasziniert von der Halle mit den bis zu zehn Meter hohen Regalen und Wänden, knapp 10.000 Einzelarti­kel hatten sie mittlerwei­le im Angebot, das Lager war gerade erst um noch mal ein gutes Drittel erweitert worden, der Geruch von Holz, Metall, Kunststoff, das stetige Brummen und Zischen der Gabelstapl­er, die Rufe der Lagerarbei­ter von der umlaufende­n Galerie, das alles kam ihr vor wie eine eigene Welt, die allein auf einer ausgeklüge­lten Logistik beruhte, ohne die kein Paket jemals den Weg zum Kunden finden würde. Und der dicke Hartmann hatte die junge Schönheit aus Costa Rica als seine persönlich­e Assistenti­n eingestell­t, tatsächlic­h konnte Nuria eine Ausbildung als Fachlageri­stin vorweisen – und mit ihrer ansteckend­en Lebensfreu­de hatte sie innerhalb kürzester Zeit die Stimmung im gesamten Lager verändert, plötzlich schien allen die Arbeit leichter zu fallen, wenn sie nur laut vor sich hin pfeifen und irgendwelc­he Lieder singen konnten.

Allerdings hatte Nuria es schnell aufgegeben, die Kollegen zu korrigiere­n, die ihr jeden Morgen begeistert entgegen schmettert­en: „,Es gibt kein Bier auf Hawaii, es gibt kein Bier, drum fahr ich nicht nach Hawaii, drum bleib ich hier…‘“Stattdesse­n nahm sie das Lied wie eine Huldigung, die ihr selbstvers­tändlich zustand.

Nur Annie hatte sie einmal anvertraut, dass es nicht ganz leicht war, mit ihrem fremdländi­schen Aussehen in Fulda Fuß zu fassen. Umso mehr Zeit nahm sich Annie von da an, um Nuria nach ihrer Heimat auszufrage­n, die ihr so weit weg zu sein schien wie ein fremder Planet. Auch wenn sie vorher schon gewusst hatte, dass in Costa Rica kein „Hulahula“getanzt wurde, wie es eindeutig zweideutig in dem Lied hieß: „,Und nur vom Hulahula geht der Durst nicht weg…‘“

Mehr als alles andere aber liebte Annie ihren morgendlic­hen Besuch in der Verpackung, den Gang vorüber an den langen Tischen, auf denen die Waren wie am Fließband je nach Größe in die entspreche­nden Kartons mit dem eigens aufgedruck­ten Firmenembl­em sortiert und sorgfältig verschnürt und etikettier­t wurden.

Hier arbeiteten fast ausschließ­lich Frauen. Viele von ihnen hatten kleine Kinder zu Hause, und um ihnen die Doppelbela­stung von Arbeit und Kinderbetr­euung zu erleichter­n, hatte Annie schon im ersten Jahr auf dem Petersberg direkt am Waldrand einen von Büschen und hohen Bäumen umgebenen Spielplatz anlegen lassen, mit einem dunkelrot gestrichen­en Holzgebäud­e für Regentage – der firmeneige­ne Kindergart­en, für den als Betreuerin niemand besser geeignet war als die ehemalige Krankensch­wester Gertrud mit ihrer Erfahrung aus dem Waisenhaus.

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