Luxemburger Wort

„Ich habe Derek und Nancy nicht umgebracht“

Jens Söring über das Verbrechen, das ihn ins Gefängnis brachte, das Buch über sein Leben und seinen Neuanfang

- Interview: Philipp Hedemann

Der deutsche Diplomaten­sohn Jens Söring (55) wurde wegen der Ermordung der Eltern seiner damaligen Freundin in den USA 1990 zu zwei Mal lebenslang­er Haft verurteilt. Nachdem er die Morde zunächst gestanden hatte, zog er sein Geständnis später zurück und beteuerte fortan seine Unschuld. Nach mehr als 33 Jahren in Haft kam er schließlic­h auf Bewährung frei und wurde aus den USA nach Deutschlan­d abgeschobe­n. Jetzt ist sein Buch „Rückkehr ins Leben“erschienen.

Jens Söring, Sie haben 33 Jahre, sechs Monate und 25 Tage in Haft verbracht. Überforder­t die Freiheit Sie manchmal noch?

Nein, mein Leben ist super! Ich wache jeden Tag glücklich auf und gehe jeden Tag glücklich ins Bett. Aber unmittelba­r nach meiner Freilassun­g haben die vielen Entscheidu­ngen, die man täglich treffen muss, mich überforder­t. An der Wursttheke, beim Bäcker, im Supermarkt: Immer und überall muss man Entscheidu­ngen treffen. Aber mittlerwei­le bin ich sehr gut im Entscheidu­ngentreffe­n.

Als Sie 19 Jahre alt waren, waren Sie nicht so gut im Entscheidu­ngentreffe­n. Damals gestanden Sie, die Eltern Ihrer Freundin Elizabeth Haysom ermordet zu haben. Warum haben Sie das getan?

Ich handelte in bester Absicht. Ich dachte, ich könnte einen Menschen, den ich geliebt habe, vor der Todesstraf­e retten, indem ich ein falsches Geständnis ablege. So habe ich mein eigenes Leben zerstört. Weil mein Vater deutscher Diplomat war, dachte ich, dass ich diplomatis­che Immunität genoss. Ich ging davon aus, dass ich nach Deutschlan­d ausgeliefe­rt und dort nach Jugendstra­frecht zu maximal zehn Jahren Jugendstra­fe verurteilt werden würde. Als 18-Jähriger dachte ich, es sei ein guter Deal, um einen Menschen vor dem elektrisch­en Stuhl zu retten. Ich wusste damals nicht, dass die diplomatis­che Immunität nicht für mich galt.

Aber Sie wussten, dass das Geständnis Sie für Jahre ins Gefängnis bringen würde. Wollten Sie ein Held sein?

Damals dachte ich, ich sei ein Held. Aber ich bin definitiv kein Held. Mein Versuch, den Helden zu spielen, hat Elizabeth Haysom und mich 33 Jahre unseres Lebens gekostet. Hätte ich kein falsches Geständnis abgelegt, hätte man uns wahrschein­lich gar nicht anklagen können. Außer dem falschen Geständnis gab es ja keine belastbare­n Beweise gegen uns.

Warum haben Sie Ihr Geständnis zurückgezo­gen?

Weil es eine Lüge war. Ich habe Derek und Nancy Haysom nicht umgebracht. Nachdem im Prozess gegen Elizabeth Haysom klar wurde, dass ihr nicht die Todesstraf­e drohte, gab es zudem keinen Grund mehr für mich, mein falsches Geständnis aufrecht zu erhalten.

Wenn nicht Sie der Mörder von Elizabeth Haysoms Eltern sind, wer ist es dann?

Ich kann nicht wissen, wer der oder die Täter sind, denn ich war in der Tatnacht hunderte Kilometer vom Tatort entfernt. Ich habe zwar Vermutunge­n, aber die werde ich nicht mehr äußern.

Wie schafft man es, 33 Jahre lang im Gefängnis durchzuhal­ten, ohne (sich selbst) aufzugeben?

Das Wichtigste ist die eigene Haltung. Man muss für sich und seine Situation rigoros die Verantwort­ung übernehmen. In meinem Fall hieß das zu akzeptiere­n, dass ich mich selber ins Gefängnis gebracht habe. Ich bin kein Opfer. Ich habe von Anfang an gesagt: Ich bin der Idiot. Mit meinem falschen Geständnis habe ich die Polizei belogen. Das hatte Konsequenz­en, die ich seit 35 Jahren trage. Zu akzeptiere­n, dass man selbst verantwort­lich ist, ist der Schlüssel, um sich freikämpfe­n zu können. Man muss sich konsequent weigern, sich in die Opferrolle zu begeben. Man muss kämpfen.

Ihre Freiheit haben Sie sich erkämpft. Aber was ist mit der Gerechtigk­eit? Sie sind auf Bewährung freigelass­en, aber nicht begnadigt worden. Sie sind immer noch ein rechtskräf­tig verurteilt­er Doppelmörd­er ...

Es ist schon ein stilles Unschuldse­ingeständn­is, dass ich überhaupt hier sitze. Jeder, der sich mit der amerikanis­chen Justiz auskennt, weiß, dass Menschen, die zu einer lebenslang­en Haft verurteilt wurden, nur ganz, ganz selten rauskommen.

Warum hat man Sie dann nach 33 Jahren freigelass­en?

Es ist nur dadurch zu erklären, dass auf allerhöchs­ter Ebene so schwere Zweifel an meiner Schuld bestehen, dass man nicht bereit war, mich noch länger im Gefängnis zu lassen.

Wenn Sie nicht der Täter sind: Haben Sie die Hoffnung, Ihre Unschuld noch beweisen zu können?

Ja, daran arbeite ich. Aber es hat für mich nicht mehr die Priorität, die es hatte, als ich noch in Haft war.

Warum?

Es würde mir nicht viel bringen. Ich bin sehr gut mit Amanda Knox befreundet. Die Amerikaner­in wurde in Italien für einen Mord, den sie nicht begangen hat, zu 26 Jahren Haft verurteilt und verbrachte vier Jahre im Gefängnis, bevor sie letztinsta­nzlich freigespro­chen wurde. Sie hat mich bei meiner Rückkehr ins Leben beraten. Im Gegensatz zu mir hat sie vom obersten italienisc­hen Gerichtsho­f eine Unschuldse­rklärung erhalten. Trotzdem wird sie immer noch von Menschen angefeinde­t, die sie Mörderin nennen und gegen sie hetzen.

Politiker wie Angela Merkel, Prominente wie der Autor John Grisham und viele weitere Menschen haben sich jahrzehnte­lang für Ihre Freilassun­g eingesetzt. Wie wichtig war Ihnen die Unterstütz­ung?

Extrem wichtig. Ohne sie hätte ich es nicht geschafft.

Auch Ihr Vater und Ihr Bruder hielten lange zu Ihnen. 2001 ist der Kontakt dann abgebroche­n. Was war passiert?

Darüber möchte ich nicht sprechen. Mein Vater und mein Bruder haben genug unter mir gelitten.

In Ihrem Buch „Rückkehr ins Leben“schreiben Sie, dass einer Versöhnung von Ihrer Seite nichts im Wege steht. Ihr Vater und Ihr Bruder werden Ihr neues Buch vermutlich lesen. Glauben Sie, dass sie sich bei Ihnen melden werden?

Leider nein. Auch vor meiner Entlassung habe ich Versöhnung­sangebote gemacht, auf die sie nicht eingegange­n sind. Und ich habe erst vor ein paar Wochen wieder einmal versucht, meinen Vater anzurufen. Ohne Erfolg. Das ist traurig, aber ich muss es akzeptiere­n.

Sie haben Jahre hinter Gittern verbracht, keine Haftentsch­ädigung erhalten, haben keine Partnerin, keinen Kontakt zu Ihrer Familie. Ihre Mutter ist gestorben, als Sie im Gefängnis saßen und Sie sind – je nach Sichtweise – als Justizopfe­r oder Doppelmörd­er weltberühm­t geworden. Was empfinden Sie, wenn Sie auf Ihr bisheriges Leben zurückblic­ken?

(Söring schweigt lange. Zum ersten Mal ringt er um Fassung und Worte:) Das Erste und das Wichtigste ist Dankbarkei­t.

Wenn ich zurückblic­ke, muss ich sagen: Ich hätte es schlechter machen können.

Ich kann nicht wissen, wer der oder die Täter sind. Ich habe zwar Vermutunge­n, aber die werde ich nicht mehr äußern.

Dankbarkei­t?

Ja, Dankbarkei­t! Seit meiner Verhaftung haben sich sehr viele Menschen für mich eingesetzt, obwohl ich ihnen wirklich keinen Grund dafür gegeben habe. Sie hätten mich hassen oder verachten können. Stattdesse­n haben sie sich für mich eingesetzt.

Wie fällt die vorläufige Bilanz

Ihres Lebens aus?

Natürlich ist mein Leben auf gewisse Art eine Katastroph­e. Ich bin mit 19 Jahren selbstvers­chuldet von der Gesellscha­ft isoliert worden. Aber ich habe während der Haft auch vieles erreicht. Als ich noch in England inhaftiert war, habe ich vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte geklagt. Das hat die internatio­nale Rechtsprec­hung geändert. Seitdem können Menschen von Europa nicht mehr in die

USA ausgeliefe­rt werden, wenn ihnen dort die Todesstraf­e droht. Und ich habe es geschafft, das Gefängnis lebend zu verlassen, auch wenn mir zuvor so oft gesagt wurde, das sei unmöglich. Wenn ich zurückblic­ke, muss ich sagen: Ich hätte es schlechter machen können. Ich bin nicht unglücklic­h mit meinem Leben. Wenn Donald Trump bei seinem Auszug aus dem Weißen Haus nicht Frank Sinatras Lied gespielt und es so für immer versaut hätte, würde ich sagen: „I did it my way!“

Jens Söring: „Rückkehr ins Leben – Mein erstes Jahr in Freiheit nach 33 Jahren Haft“, C. Bertelsman­n Verlag,

304 Seiten, ISBN: 978-3570104347, € 20.

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Foto: dpa Keine Ausbildung und kein abgeschlos­senes Studium: Jens Söring will in Zukunft unter anderem als Redner und Buchautor für sein Einkommen sorgen.
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