Luxemburger Wort

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Angela Merkel ist in der ganzen EU beliebt – doch ihre europapoli­tische Bilanz ist umstritten

- Von Diego Velazquez (Brüssel) Karikatur: Florin Balaban

„Sie kennen mich“– mit diesem Satz gewann Angela Merkel die Deutschen bei der Bundestags­wahl von 2013 für sich. Das Gefühl von Sicherheit, Stabilität und berechenba­rem Handeln, das Merkel dadurch vermitteln wollte, überzeugt mittlerwei­le auch viele Europäer. Wenn es eine Wahl für den Präsidente­n Europas gäbe, würde Angela Merkel mit 41 Prozent der Stimmen deutlich gegen Frankreich­s Präsidente­n Emmanuel Macron mit nur 14 Prozent der Stimmen gewinnen, fand eine rezente Umfrage im Auftrag der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) heraus.

Angela Merkels Art findet demnach in der ganzen EU einen gewissen Zuspruch. „In einer Zeit, die von unberechen­baren und 'starken' Männern wie Donald Trump, Boris Johnson, Narendra Modi und Jair Bolsonaro geplagt wurde, lieferte Merkel ein Gegenmodel­l von rationaler und standhafte­r Führung“, erklären die Politologe­n Matthias Matthijs und R. Daniel Kelemen. Deswegen werde Merkel gerne als das „Paar zuverlässi­ger Hände“gesehen, „die die EU durch eine Reihe beispiello­ser Krisen geführt habe.“

Und tatsächlic­h: Merkel schaffte es während der Eurokrise, die skeptische deutsche Öffentlich­keit davon zu überzeugen, dass Rettungspa­kete für Griechenla­nd notwendig waren. Und als Russlands Wladimir Putin 2014 die Krim annektiert­e und einen Krieg in der Ostukraine auslöste, war sie es, die einen Friedenspr­ozess aushandelt­e. Ähnlich positiv kann ihre Rolle in der Flüchtling­skrise von 2015 gesehen werden, bei der sie – anders als viele andere Regierungs­chefs in der EU – ein menschlich­es Gesicht zeigte und die Türen Deutschlan­ds für syrische Schutzsuch­ende kurzerhand öffnete.

Priorität: die deutsche Wirtschaft „Aber es gibt auch eine dunklere Seite von Merkels Führung in Europa“, sagen Matthias Matthijs und R. Daniel Kelemen. „In fast jeder Krise hat Merkel die Probleme einfach ausgesetzt“, meinen sie. „Merkel zögerte immer bis zum letzten Moment, um große Entscheidu­ngen zu treffen. Und selbst dann stimmte sie oft nur dem Nötigsten zu, um ein Auseinande­rbrechen zu verhindern.“Im Rückblick hat diese Methode ein Hauptprobl­em: „In vielen Fällen – von der Euro-Krise bis zur Rechtsstaa­tskrise in Ungarn und Polen – führte ihre strategisc­he Untätigkei­t dazu, dass ernsthafte Probleme schwelten und sich dadurch noch tiefer verfestigt­en.“

Dabei war nicht nur die Methode fragwürdig, sondern auch der politische Kompass der Kanzlerin. Matthijs und Keleman sprechen dabei von „Merkantili­smus“. Dabei wurden „deutsche kommerziel­le Interessen systematis­ch gegenüber demokratis­chen und menschenre­chtlichen Werten oder der innereurop­äischen Solidaritä­t priorisier­t.“

Angela Merkels Umgang mit der Eurokrise ist dafür bezeichnen­d.

Seit dem Beginn dieser Krise um das Jahr 2009 hat Merkel stets gehofft, dass das Problem sich von selbst lösen würde. Doch mit der Zeit stieg der politische und finanziell­e Preis einer Lösung. Solange es nur möglich war, betonte Merkel, dass jedes Euro-Land für sich selbst zuständig sei, bis die Lage dann untragbar wurde und der Euroraum vor dem Abgrund stand. Erst dann bewegte sich Merkel und es folgten Rettungspa­kete, die nur sehr widerwilli­g von der deutschen (und nordeuropä­ischen) Öffentlich­keit akzeptiert wurden.

„Merkeln“auf EU-Ebene

Die Sparmaßnah­men, die etwa Griechenla­nd im Tausch für finanziell­e Hilfen durchführe­n musste, vergiftete­n die Stimmung auch im Süden der Union. Dadurch fehlte im Anschluss jegliche politische Grundlage, um den Euroraum strukturel­l zu reformiere­n – ein Problem, das bis heute anhält und zum wirtschaft­lichen Auseinande­rdriften der Euro-Staaten beiträgt. „Merkel hat immer genug getan, um die Eurozone zusammen zu halten“, erklärt etwa Lucas Guttenberg vom Jacques Delors Centre in Berlin. „Aber sie hat nie eine eigene Vorstellun­g entwickelt und verteidigt, wie es nach der Krise weitergehe­n sollte. Ihre Haltung blieb immer defensiv.“Und die Bundeskanz­lerin hat sich auch mit der Zeit nicht geändert. Emmanuel Macrons ehrgeizige Reformvors­chläge aus dem Jahre 2017 wurden in Berlin bestenfall­s manierlich zur Kenntnis genommen. Dabei scheint man in Berlin ständig zu vergessen, dass „die Schaffung des Euro vor allem für Deutschlan­d vorteilhaf­t war“, wie

In der Euro-Krise blieb Angela Merkels Haltung immer defensiv. Sie hat nie eine eigene Vorstellun­g entwickelt. EU-Experte Lucas Guttenberg

Luxemburgs Außenminis­ter Jean Asselborn (LSAP) sagt.

Eine ähnliche Kritik muss sich Angela Merkel im Umgang mit Autokraten in und außerhalb der EU gefallen lassen. Dass der ungarische Premiermin­ister Viktor Orbán bis 2021 Mitglied der Europäisch­en Volksparte­i, dem Bund aller Christdemo­kraten Europas, bleiben durfte, hat er vor allem Merkels CDU zu verdanken. Der Grund? „Ungarn ist ein bedeutende­s Niedrigloh­nproduktio­nszentrum für deutsche Konzerne“, meinen Matthijs und Kelemen. Auch im Umgang mit Polen überwiegen in Berlin ähnliche Betrachtun­gen. Optimisten entgegnen, dass Merkel dadurch die Eskalation der OstWest-Spannungen innerhalb der EU verhindern konnte.

Doch die harmonisch­en Beziehunge­n zwischen Ost- und Westeuropa scheinen der Bundeskanz­lerin egal zu sein, wenn deutsche Wirtschaft­sinteresse­n auf dem Spiel stehen. Um den Industries­tandort und den Gasmarkt in Deutschlan­d zu stärken, hat sich Merkels Bundesregi­erung auf den

Bau von Nordstream 2 eingelasse­n, einer Pipeline, die Erdgas aus Russland nach Deutschlan­d transporti­eren soll. Dadurch könnte Europa allerdings stärker von russischem Gas abhängig werden, was bisherige Gastransit­länder wie die Ukraine – aber auch EU-Partner wie Polen oder Estland – sehr beunruhigt. Doch daran störte sich Merkel nie.

Corona-Fonds: Das Erbe ist gerettet Als im Sommer 2020 die ohnehin besonders coronagepl­agten Südeuropäe­r auf eine richtige Tourismuss­aison verzichten müssen und der EU-Binnenmark­t deswegen vor dem Abgrund steht, geschieht jedoch das Undenkbare: Angela Merkel sagt einem großzügige­n Corona-Aufbaufond­s zu, der mit gemeinsame­n EU-Schulden finanziert wird.

Die Bundeskanz­lerin betont zwar, dies sei eine „einmalige“Angelegenh­eit – ein Tabubruch für Berlin ist es nichtsdest­otrotz. In extremis rettet Merkel somit den EU-Binnenmark­t – und ihr Erbe als Europa-Kanzlerin.

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