Teures Gas löst Krise aus
Schnell steigende Gaspreise könnten Pleitenserie auslösen mit unabsehbaren Folgen für andere Sektoren
Seit Wochen kämpft die britische Wirtschaft bereits mit stockenden Lieferketten, jetzt kommt noch eine weitere Krise hinzu: Ein rapider Anstieg des Gaspreises. So schnell hat sich Erdgas im Großhandel verteuert, dass unzähligen kleineren Energiefirmen der baldige Kollaps droht. Vergangene Woche mussten bereits zwei Düngemittelfabriken ihren Betrieb vorübergehend einstellen, weil sie den hohen Gaspreis nicht verkraften. Sollte es im Land zu einer Gasknappheit kommen, warnen mehrere Branchen vor ernsten Konsequenzen, vom NHS bis zu den Getränkeherstellern. Laut Presseberichten erwägt die Regierung, die Krise mithilfe staatlicher Rettungsgelder abzuwenden.
Gemäß Zahlen des Branchenverbands Oil and Gas UK ist der Gaspreis im Großhandel seit Januar um satte 250 Prozent gestiegen – allein seit August hat sich der Rohstoff um 70 Prozent verteuert. Der dramatische Anstieg ist mehreren Faktoren geschuldet. Nachdem die Wirtschaft vieler Länder nach längeren Covid-Beschränkungen wieder langsam in die Gänge gekommen ist, hat die globale Nachfrage nach Erdgas stark angezogen. „Es ist so, als würden alle gleichzeitig am Ende des Fernsehprogramms den Wasserkessel einschalten“, sagte Premierminister Boris Johnson.
Ein weiterer Grund liegt darin, dass der letzte Winter in Großbritannien lang und kalt war, mit der Folge, dass die Gasvorräte weitgehend aufgebraucht sind – und jetzt, im Frühherbst, müssen sich die Energiefirmen erneut für die kalte
Jahreszeit wappnen. Zudem vermochte die Windkraft, die in Großbritannien einen erheblichen Teil der Energie bereitstellt, nicht genügend Strom zu erzeugen, weil es in den vergangenen Monaten weniger windig war als üblich. Die Lücke in der Energieversorgung musste mit Erdgas gefüllt werden.
Für kleinere Energiefirmen ohne finanzielles Polster ist der scharfe Anstieg des Gaspreises schwer zu bewältigen. Denn sie sind verpflichtet, ihren Kunden Gas zu einem bestimmten Maximalpreis
zu verkaufen; wenn der Preis, zu dem sie einkaufen, zu hoch liegt, geraten sie in Schwierigkeiten. „Viele operieren mit einer dünnen Gewinnmarge und sind von den Folgen der steigenden Großhandelspreise stark betroffen“, sagte die Energieexpertin Justina Miltienyte vom Preisvergleich-Anbieter Uswitch. Das lokale Energieunternehmen Utility Point beispielsweise, das in der Grafschaft Dorset rund 220 000 Haushalte versorgt, ging vergangene Woche Pleite. Laut Brancheninsidern
könnten in den kommenden Monaten Dutzende ähnliche Firmen ebenfalls Insolvenz anmelden – von den 55 Energiefirmen könnten bis Jahresende nur noch etwa zehn übrig bleiben.
Die hohen Preise haben auch für andere Branchen Konsequenzen. Das US-amerikanische Unternehmen CF Industries, das in einer Fabrik in Nordengland unter intensivem Einsatz von Erdgas Düngemittel fertigt, musste die Produktion aufgrund des Preisanstiegs vorübergehend einstellen. Das wirkt sich etwa auf die Fleisch- sowie die Getränkebranche aus: Bei der Herstellung von Düngemittel fällt CO2 an, das an diese Sektoren geliefert wird. Das Gas wird etwa für Kohlensäure in Getränken genutzt, oder um Schweine vor dem Schlachten zu betäuben. Auch Trockeneis für die Lagerung von Frischwaren wird mithilfe von CO2 hergestellt.
Gesundheitsdienst NHS warnt
Der Chef des britischen Fleischbranchenverbands forderte die Regierung dringend auf, dafür zu sorgen, dass die Lieferschwierigkeiten so gering wie möglich gehalten werden. Der Chef der Supermarktkette Iceland, Richard Walker, warnte gestern, dass CO2Knappheit „schon in den kommenden Tagen und Wochen zu einem Problem werden“könne. Auch der Gesundheitsdienst NHS wäre davon betroffen: Das Gas kommt in manchen Operationen zum Einsatz, etwa bei Endoskopien. „Wir müssen dem NHS Priorität einräumen, andernfalls werden Menschen Schaden nehmen“, sagte Victor Adebowale, Vorsitzender der NHS Confederation, dem Dachverband der Gesundheitsanbieter.
In notfallmäßig anberaumten Gesprächen versuchte die Regierung übers Wochenende, die Krise einzudämmen. Vertreter der Energiebranche wollen die Regierung dazu bringen, staatliche Rettungsgelder bereitzustellen. Die Regierung sagte, dass die Konsumenten auf jeden Fall in den kommenden Monaten keine höheren Tarife für ihren Strom zahlen müssten. Die Gespräche gingen gestern weiter.