Kremlsieg dank klemmender Computer
Die Staatspartei „Einiges Russland“hat die Duma-Wahlen wie traditionell gewonnen
Die Handgreiflichkeiten gingen auch gestern weiter. Am Morgen wollte Boris Wischnewski, oppositioneller Stadtratsabgeordneter, bei der Verwaltung des Petersburger Zentralbezirks Protest gegen verdächtige Wahlergebnisse einlegen. Aber er wurde vor dem Gebäude von vier athletischen jungen Männern angerempelt, sie entrissen ihm seine Beschwerdepapiere. Ein nahe dabei stehender Polizist erklärte dem Politiker, er sei für so etwas nicht zuständig.
Die von Skandalen überschatteten Duma-Wahlen endeten wie erwartet mit einem deutlichen Sieg der Staatspartei Einiges Russland (ER). Nach Auszählung von 99,67 Prozent der abgegebenen Stimmen lag Putins ER mit 49,84 Prozent vorne, ein Verlust von über vier Prozentpunkten, gefolgt von der Kommunistischen Partei Russlands (KPRF) mit 18,96 Prozent. Die Kommunisten legten fast fünf Prozentpunkte zu. Aber bei einer Wahlbeteiligung von offiziell 51,68 Prozent hielten sich die sogenannten „Einheitsrussen“offenbar in 195 der 225 Direktwahlkreise schadlos. Dort lagen ihre Kandidaten nach Angaben der Zentralen Wahlkommission (ZIK) gestern Nachmittag in Front. Und laut Interfax kann ER hoffen, mit voraussichtlich 315 Abgeordneten seine Zweidrittelmehrheit im dem 450-Sitze-Haus zu verteidigen.
Erfolglose Demokraten
Die zwei anderen Parlamentsparteien, die Liberaldemokratische Partei Russlands (LDPR) und die Partei „Gerechtes Russland für die Wahrheit“lassen beide Federn und müssen sich mit 7,5 Prozent und 7,44 Prozent zufrieden geben. Dafür meistert die vergangenes Jahr gegründete Partei „Neue Leute“mit 5,33 Prozent knapp die Fünfprozenthürde. Die übrigen neun teilnehmenden Parteien scheitern dagegen deutlich an dieser Hürde, auch die „Jabloko“-Partei, die als letzte liberale Oppositionskraft gilt. Auch sämtliche Direktkandidaten des demokratischen Spektrums in Moskau blieben erfolglos, etwa die Feministin Aljona Popowa oder die Unabhängige Anastasia Brjuchanowa, jedoch unter fragwürdigen Umständen.
Wenn sich ein Abgeordneter querstellt, wird ihm das Mandat erzogen. Juri Korgonjuk, Moskauer Politologe
Unklar ist noch, ob einzelne Bewerber kleinerer systemtreuer Wahlvereine wie der „Bürgerplattform“oder der „Partei des Wachstums“in die Duma gelangen. Aber nach Ansicht des Moskauer Politologen Juri Korgonjuk werden sie dort ebenso wie die „Neuen Leute“kaum für Diskussionen sorgen. „Wenn sich ein Abgeordneter querstellt, wird ihm das Mandat erzogen.“Ebenso traditionell wie der Sieg der Staatspartei sind inzwischen die Manipulationen, mit denen sie errungen werden. Bei der Wählerrechtsgruppe Golos gingen allein am dritten Tag der Abstimmung bis 20 Uhr 3 281 Beschwerden wegen Wahlverstößen ein, davon 329, von denen Wahlbeobachter, Journalisten oder Mitglieder der Wahlkommissionen betroffen waren. Laut Golos bemühten sich die Wahlbehörden, kritische Augenzeugen mit Hilfe der Polizei, aber auch gewalttätiger Kampfsportler aus den Abstimmungslokalen zu beseitigen. ZIKLeiterin Ella Pamfilowa gab bekannt, man habe über 25 000 Stimmzettel für ungültig erklärt. Und in Petersburg, wo der Druck auf die Wahlbeobachter besonders hoch war, schloss sie eine Annullierung
der Ergebnisse in sechs bis sieben Wahllokalen nicht aus.
Niederlage für Nawalny
Die Hoffnung vieler Oppositioneller, es könne in vielen Regionen zu Protestwahlen kommen, bewahrheitete sich nicht. Wenig Erfolg zeitigte auch die in den liberalen Medien vor den Wahlen lautstark als demokratische Geheimwaffe beschworene sogenannte „Kluge Abstimmung“. Mit ihr wollten Nawalnys Anhänger die oppositionelle Wählerschaft in den Direktwahlkreisen für die stärksten Konkurrenten der ER-Kandidaten mobilisieren, vor allem für KPRFBewerber. Aber gerade dort schnitten die Kommunisten und andere Oppositionelle noch schlechter ab als bei der Listenwahl. In Moskau aber klemmte gestern der Computer, der das Ergebnis der elektronischen Wahlen hätte ausspucken sollen, angeblich hatten über zwei Millionen Hauptstädter im Internet abgestimmt. 20 Stunden nach der Schließung der Wahllokale gab ZIK-Chefin Panfilowa schließlich bekannt, man verschiebe die Bekanntgabe des offiziellen Endergebnisses auf Freitag. Oppositionelle befürchten massive digitale Manipulationen. Und der Sender TV Doschd veröffentlichte Screenshots des ZIK-Monitors: Danach machte Galina Chowanskaja, eine zurückliegende Kandidatin der Staatsmacht, bei der Auszählung der letzten 0,5 Prozent der Stimmen über sieben Prozentpunkte gut und entriss ihrer unabhängigen Konkurrentin Anastasia Brjuchanowa so den Sieg.
Die ebenfalls benachteiligten Kommunisten wollen das Ergebnis der elektronischen Abstimmung in der Hauptstadt nicht anerkennen. Die Moskauer Stadtverwaltung ihrerseits gab bekannt, sie werde drei von den Kommunisten beantragte Demonstrationen nicht gestatten. Anlass für das Verbot ist das ansonsten in Russland eher schlaff bekämpfte Corona-Virus. Kommunisten-Chef Gennadi Sjuganow verkündete, man müsse das Wahlergebnis verteidigen, wie 1941 die Offiziersschüler der Roten Armee Moskau. Aber er riskierte keinen Aufruf an seine Anhänger, ohne Genehmigung der Behörden auf die Straße zu gehen. „Bisher war Putins Russland eine elektorale Diktatur“, sagt Politologe Korgonjuk. „Jetzt ist es zur puren Diktatur geworden.“