Die Ampel steht auf Rot
In Deutschland beginnt heute eine neue Ära: Olaf Scholz wird im Bundestag zum neuen Bundeskanzler gewählt und vereidigt. Er tritt damit in die großen Fußstapfen von Angela Merkel, die Deutschland 16 Jahre lang auf ihre ganz eigene Art führte. Ihre Arbeitsweise verschaffte der Politikerin Respekt unter allen Amtskollegen und -kolleginnen, einige enge Verbindungen entstanden – allen voran zum französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Auch in Xavier Bettel und vor allem Jean-Claude Juncker fand die heute 67-Jährige enge Vertraute. Und selbst die, die ihr nicht gut gesonnen waren, schätzten die Bundeskanzlerin für ihre uneitle, zurückhaltende Amtsführung.
Scholz, ihr Nachfolger und nach Willy Brandt, Helmut Schmidt und Gerhard Schröder der vierte Bundeskanzler aus den Reihen der SPD, tritt ein schweres Erbe an. Der Politiker ist seit vielen Jahren politisch aktiv – sei es als Erster Bürgermeister der Hansestadt Hamburg, als Bundesminister für Arbeit und Soziales oder als Bundesminister der Finanzen und Stellvertreter seiner Vorgängerin –, wirklich Eindruck hat er bislang aber nicht hinterlassen. Der Triumph seiner Partei bei den Wahlen war auch nicht dem Auftreten des Politikers zu verdanken. Die SPD schaffte es nur aufgrund schwacher Konkurrenz emporzukommen. Scholz war der Einzige unter den Kandidaten, dem man die Führung des Landes zutraute – und das, obwohl der nordisch-kühle 61-Jährige vor Kameras bisweilen verloren wirkt.
Die derzeitige Ausgangssituation scheint aber nicht ausweglos zu sein: Olaf Scholz überraschte die Öffentlichkeit bei der Vorstellung seiner Ministerriege mit einigen Personalien. Etwa dem Einsatz von Mediziner und Medienprofi Karl Lauterbach als Gesundheitsminister, was ihm in der Bevölkerung einige Pluspunkte bescheren dürfte. Auch die anderen Koalitionsparteien schicken ihre stärksten Kräfte ins Rennen. Die Grünen setzen neben Baerbock und Habeck unter anderem auf Sympathieträger Cem Özdemir (Ernährung und Landwirtschaft), die FDP allen voran auf Parteichef Christian Lindner (Finanzen). Die Ampelkoalition scheint gefestigt, das Regierungsprogramm ist unterzeichnet und trotz großer gelber Erfolge bleibt die vorherrschende Farbe Rot.
Nun gilt es für Olaf Scholz noch, sich zu beweisen – und das muss er wohl früher, als ihm lieb ist: Die vierte Corona-Welle hat das Land im Griff, in Teilen Ostdeutschlands liegt die Sieben-Tage-Inzidenz teilweise bei über 2 000 Infektionen pro 100 000 Einwohnern. Die Impfpflicht steht zur Diskussion – und das Thema hat das Potenzial, die Gesellschaft zu spalten. Probleme drohen auch in Osteuropa: Die Flüchtlingskrise vor den Toren der EU, die zumindest in den Nachrichten ein wenig in den Hintergrund gerückt ist, könnte bei Scholz für schlaflose Nächte sorgen; auch die Situation in der Ukraine ist besorgniserregend. Ob Scholz wirklich zum Kanzler taugt, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Wenn er die richtigen Entscheidungen trifft, kann er der Ampelkoalition zum Erfolg verhelfen – und das „Experiment“Rot-Gelb-Grün zu einem Vorzeigemodell für die Zukunft machen.
Ob Scholz zum Kanzler taugt, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.
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