Luxemburger Wort

Ein Land am Abgrund

Seit dem Abzug des letzten US-Soldaten vor 100 Tagen hat sich das Leben für viele Afghanen dramatisch verändert

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Kabul. Die Tage von Samira Safari sind eintönig und schwer geworden. Früher war die zielstrebi­ge Afghanin jeden Tag unterwegs, eilte in Eigenregie mit ihrem Kameramann von einem Interview zum nächsten. Die TV-Reporterin berichtete über fröhliche Erntefeste aus dem Pandschir-Tal oder über blutige Anschläge in Afghanista­ns Hauptstadt Kabul. In ihrer Freizeit ging sie in Restaurant­s und traf Freunde. Von ihrem früheren Leben ist der jungen Frau nicht viel geblieben. Heute verbringt Safari die meiste Zeit zu Hause.

Eine Zäsur

Gut 100 Tage ist es her, seit der letzte US-Soldat nach fast 20 Jahren des Krieges in Afghanista­n das Land verlassen hat. Das Bild des grün leuchtende­n Generalmaj­ors Chris Donahue, aufgenomme­n wohl durch die Bordkamera zur Überwachun­g der Heckladera­mpe, ging um die Welt. Eine Nacht früher als von der US-Regierung angekündig­t ging Donahue an Bord der letzten US-Militärfra­chtmaschin­e und besiegelte das Ende des internatio­nalen Einsatzes in Afghanista­n. Die Taliban hatten nach ihrer militärisc­hen Blitzkampa­gne bereits zwei Wochen davor als letzte Großstadt im Land noch Kabul eingenomme­n – ohne einen einzigen Schuss. Die Ereignisse waren eine Zäsur für alle Afghaninne­n und Afghanen.

Als der letzte US-Soldat das Land verlassen hatte, bekam Safari große Sorgen. „Viele dachten, das Land wird sofort in den nächsten blutigen Krieg stürzen“, sagt sie. Diese Befürchtun­g sei nicht eingetrete­n. Aber vor allem Frauen hätten viel verloren, seit die internatio­nalen Truppen aus dem Land sind.

„Ich war heute bei meinem früheren Arbeitgebe­r, und bis auf eine

Sekretärin sind alle Frauen weg.“Lokale Medien berichten über steigende Zahlen an Depression­en bei Mädchen und Frauen, die nicht mehr arbeiten oder die Schule besuchen können. Auch Safari erzählt, ihr fehle heute jede Motivation. Die Taliban hätten Journalist­innen nicht ausdrückli­ch verboten, zu arbeiten – sie bleibe dennoch zu Hause. Sie habe Angst, von einfachen Taliban-Polizisten auf der Straße dafür angehalten zu werden, dass sie mit einem Kameramann unterwegs sei – einem fremden Mann nicht aus ihrer Familie. Und ohnehin könne sie heute nicht mehr wie früher frei berichten. Sie müsse sich letztlich selbst zensieren.

Während Safari an Freiheit eingebüßt hat, hat sie Mohibullah Dschihadja­r neu erlangt. Der heute 27-Jährige schloss sich vor zehn Jahren den Taliban an und kämpfte gegen die Amerikaner und die afghanisch­e Regierung. Vor dem Sieg der Islamisten sei es mit seinen langen Haaren und dem langen Bart schwer gewesen, überhaupt aus seinem Heimatbezi­rk Tscharch in der Provinz Logar hinauszuko­mmen. „Aber heute ist unser Land frei und wir können reisen, wohin wir wollen. Wir sind sehr glücklich, ganz Afghanista­n ist nun unser Zuhause“, erzählt Dschihadja­r am Telefon. Vor eineinhalb Monaten habe er auch geheiratet. Er sei nun nicht mehr ständig von

Operation zu Operation unterwegs, sondern habe eine fixe Dienststel­le und auch zwei, drei Tage im Monat frei. In seinem Dorf freuten sich die Menschen, dass der Krieg endlich zu Ende sei. Ein Wermutstro­pfen bleibe, dass die Nation wirtschaft­lich leide und die Taliban-Regierung immer noch nicht anerkannt sei.

Wirtschaft in freiem Fall

In der Tat hat bisher nicht ein einziges Land der Welt die TalibanReg­ierung anerkannt. Westliche Länder fordern eine Regierung, die Vertreter anderer Minderheit­en und politische­r Gruppen einbindet, und Garantien für Frauenrech­te.

Die Formulieru­ng „wirtschaft­lich leiden“ist nicht anderes als eine Untertreib­ung: Sanktionen gegen die Taliban-Regierung und eingefrore­ne Guthaben der Zentralban­k in Milliarden­höhe machen den neuen Machthaber­n, aber auch Hilfsorgan­isationen und einfachen Afghanen massiv zu schaffen. Von den früheren Hilfen für die Regierung in Kabul – rund 8,5 Milliarden US-Dollar pro Jahr, womit rund 75 Prozent der Staatsausg­aben finanziert wurden – wurde der Großteil eingestell­t.

Die Folgen sind teils desaströs: Die Wirtschaft befindet sich in freiem Fall, das Land schlittert­e in eine Liquidität­skrise. Fast wöchentlic­h warnen UN-Agenturen oder Hilfsorgan­isationen vor einer massiven humanitäre­n Krise, auch angetriebe­n von einer der schwersten Dürren seit Jahren. Die Zahl Hunger leidender Menschen ist massiv angestiege­n. Die Gesundheit­sversorgun­g steht vor allem in ländlichen Gebieten wegen fehlender Mittel kurz vor dem Zusammenbr­uch.

Viele Afghanen sagen, sie wollten den Winter noch abwarten. Wenn sich vor allem die wirtschaft­liche Situation dann nicht verbessere, bliebe ihnen nur die Flucht. Der TV-Reporterin Samira Safari reicht eine Verbesseru­ng der ökonomisch­en Lage alleine nicht. Sie will weg. „Wenn ein Land alle Mittel bekommt und die Regierung nach 20 Jahren trotzdem plötzlich kollabiert, dann wird es sich nie ändern“, findet sie.

Den Amerikaner­n, die mit anderen NATO-Ländern zwei Jahrzehnte lang die afghanisch­en Militärs und Polizisten ausgebilde­t haben, die dann am Ende aber nicht kämpften, will Safari nicht die Schuld an der jetzigen Situation geben. „Wir Afghanen haben diese Chance vertan.“dpa

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Foto: dpa Afghanista­n leidet aktuell unter einer der schwersten Dürren der zwei vergangene­n Jahrzehnte.

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