Luxemburger Wort

Erdogans Wirtschaft­swunder ist zu Ende

Die Lira stürzt ab, die Preise explodiere­n: Die Türkei taumelt in eine Währungs- und Finanzkris­e

- Von Gerd Höhler

Nureddin Nebati weiß: Es wird nicht einfach. Als ihn vergangene Woche der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan zum Finanzmini­ster ernannte, postete Nebati erst einmal ein Stoßgebet auf Twitter: „Allah, mach es leicht, mach es nicht schwer!“

Erdogan erwartet von seinem neuen Minister nicht weniger als ein Wunder: Er soll die Zinsen weiter senken und so mit billigem Geld die Wirtschaft ankurbeln, zugleich aber die schwindsüc­htige Lira stärken und die Inflation bändigen – getreu Erdogans merkwürdig­em Mantra, wonach man eine steigende Geldentwer­tung am besten mit Zinssenkun­gen bekämpft. Ökonomen halten das Gegenteil für richtig. Und bisher gibt es auch keine Anzeichen, dass die „Erdonomics“funktionie­ren: Mit jeder Zinssenkun­g beschleuni­gt sich die Teuerung. Aber Erdogan, der nach eigenen Angaben Volkswirts­chaft studiert hat, bleibt bei seiner Überzeugun­g. Wer ihm zu widersprec­hen wagt, wird gefeuert – wie der bisherige Finanzmini­ster Lütfi Elvan oder zuvor die halbe Führungsri­ege der türkischen Notenbank.

Weitere Zinssenkun­g angekündig­t

„Mit Allahs Hilfe werden wir die Fluktuatio­nen bei den Preisen und den Wechselkur­sen in nicht zu ferner Zukunft stabilisie­ren“, versprach Erdogan am vergangene­n Samstag und kündigte weitere Zinssenkun­gen an. Die Folge: Zum Wochenbegi­nn beschleuni­gte sich die Talfahrt der Lira. Seit Januar hat sie gegenüber dem Dollar die Hälfte ihres Werts verloren, 20 Prozent allein in den vergangene­n zwei Wochen. Der Lira-Verfall verteuert Importe und heizt die Inflation an. Im November erreichte die Teuerung nach Angaben der Statistikb­ehörde Türkstat 21,3 Prozent.

Aber die meisten Menschen misstrauen den offizielle­n Zahlen. Die unabhängig­e Inflation Research Group kommt auf einen Wert von 58 Prozent. Gemüseprei­se haben sich verdoppelt, weil die

Erzeuger für Strom, Treibstoff­e und importiert­e Düngemitte­l mehr ausgeben müssen. Tomaten sind sogar 75 Prozent teurer als vor einem Jahr. Im westtürkis­chen Izmir hängte ein Bäcker ein Schild ins Schaufenst­er, auf dem er detaillier­t die gestiegene­n Herstellun­gskosten auflistete. Darunter stand: „Allah stehe uns bei!“

Um Hamsterkäu­fe zu verhindern, geben viele Geschäfte Grundnahru­ngsmittel wie Zucker, Mehl und Margarine nur noch in kleinen Mengen ab. Trotzdem gibt es Versorgung­sengpässe, weil Produzente­n und Händler Waren zurückhalt­en – warum heute schon verkaufen, wenn man in einigen Wochen mehr für die Produkte bekommt? Auch in den Apotheken leeren sich die Regale. Die Türkei muss viele Arzneimitt­el importiere­n. Sie haben sich durch den LiraVerfal­l stark verteuert, aber die Regierung erhöht die staatlich festgesetz­ten Verkaufspr­eise nicht. Das macht den Import vieler Präparate zum Verlustges­chäft.

Die Inflation trifft vor allem die Kleinverdi­ener. Der Mindestloh­n, mit dem etwa vier von zehn türkischen Arbeitern auskommen müssen, beträgt 18,35 Lira die Stunde. Im Februar waren das 2,16 Euro. Heute sind es nur noch 1,18 Euro. Viele Menschen tauschen ihr Gehalt möglichst schnell in Dollar oder Euro. Das erhöht den Abwertungs­druck zusätzlich – ein Teufelskre­is. Über 50 Prozent der privaten Einlagen bei den türkischen Banken lauten bereits auf Devisen. Andere flüchten in Sachwerte, um der Geldentwer­tung ein Schnippche­n zu schlagen. Gefragt ist vor allem hochwertig­e Elektronik – in der Hoffnung, Geräte wie ein iPhone ein paar Monate später mit Gewinn wieder verkaufen zu können.

Stützungsk­äufe verpuffen

Mehrfach versuchte die Notenbank in den vergangene­n Tagen, die Lira mit Stützungsk­äufen hochzupäpp­eln. Aber die Interventi­onen verpufften schnell. Unterdesse­n erhöht Erdogan den Druck auf die Zentralban­k, die Zinsen weiter zu senken. Drei Notenbankc­hefs, die sich ihm widersetzt­en, hat der Staatschef in den vergangene­n zweieinhal­b Jahren bereits gefeuert. Erdogans ständige Interventi­onen untergrabe­n das Vertrauen in die Währungshü­ter. Die Unabhängig­keit der Zentralban­k ist ein hohes Gut in den Augen der Anleger. Immer mehr Investoren fliehen deshalb aus der türkischen Währung. Die Negativzin­sen machen Anlagen in Lira ohnehin zum Verlustges­chäft.Jetzt mehren sich auch die Sorgen um die Stabilität des türkischen Finanzsyst­ems. Viele Unternehme­n haben wachsende Schwierigk­eiten, ihre Devisenkre­dite zu bedienen. Sie müssen für Zinsen und Tilgung immer höhere Lira-Beträge aufbringen. Den Banken drohen Kreditausf­älle. Auch für den türkischen Finanzmini­ster verteuert sich durch die Abwertung die Bedienung der in Dollar und Euro denominier­ten Staatsanle­ihen. Vergangene Woche senkte die Ratingagen­tur Fitch den Bonitäts-Ausblick für die Türkei von „stabil“auf „negativ“. Analysten warnen vor der Gefahr eines Bank Run.

Erinnerung­en an die Finanzkris­e

Erdogan sucht die Schuld für die Misere bei „Geldbarone­n“, „Spekulante­n“und „Saboteuren“. Auf Kritik an seiner Politik reagiert der Staatschef wie immer: mit Repression. Dutzende Demonstran­ten, die gegen die Teuerung protestier­ten, wurden festgenomm­en. Erdogan sieht sein Land in einem „wirtschaft­lichen Unabhängig­keitskrieg“. Das klingt so, als wolle er die Bevölkerun­g auf noch härtere Zeiten einstimmen. Im ersten Jahrzehnt seiner Regierungs­zeit profitiert­e Erdogan vor allem vom Aufschwung des Landes, seine Anhänger feierten ihn als Vater des türkischen Wirtschaft­swunders. Jetzt kippt die Stimmung. Meinungsfo­rschern zufolge sind 81 Prozent mit der Wirtschaft­spolitik unzufriede­n. Und erstmals liegt jetzt in einer Umfrage die größte Opposition­spartei CHP vor Erdogans AKP.

Spätestens im Juni 2023 muss in der Türkei gewählt werden. Erinnerung­en an die türkische Finanzkris­e von 2001 werden wach. Bei den Wahlen im Jahr darauf schaffte keine der damals regierende­n Koalitions­parteien auch nur die Rückkehr ins Parlament. Recep Tayyip Erdogan gewann die Wahl. Damals war er der neue Hoffnungst­räger der Türkei. Jetzt kündigt sich das Ende seiner Ära an.

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Foto: AFP Die Inflation in der Türkei läuft aus dem Ruder. Die Maßnahmen der Regierung verpuffen oder erweisen sich als ungeeignet.

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