Amerikas Soll-Bruchstelle
Der 6. Januar 2021, so viel kann man heute schon sagen, wird als schwarzer Tag in die amerikanische Geschichte eingehen. Die Bilder von der Attacke auf das Kapitol, dem Sitz von Repräsentantenhaus und Senat, stehen in jedem Jahresrückblick an vorderster Stelle. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht neue Details über den Ablauf der gewalttätigen Proteste ans Tageslicht kommen.
So weiß man heute, dass der damalige Präsident Donald Trump nicht nur stundenlang nichts unternahm, um die von ihm aufgewiegelten Horden zurückzupfeifen. Vielmehr versuchte er, das Chaos gezielt und planmäßig auszunutzen, um an der Macht zu bleiben. Trump setzte seinen Vize Mike Pence, einen ergebenen Diener seines Herrn, massiv unter Druck, damit dieser die Wahlergebnisse aus einigen entscheidenden Bundesstaaten zurückweisen sollte, um Trump trotz Wahlniederlage so zur zweiten Amtszeit zu verhelfen.
Ohne Zweifel sind die USA in diesen Januar-Tagen um Haaresbreite an einer Verfassungskrise vorbeigeschlittert. Doch aufgearbeitet, geschweige denn gebannt, ist die Gefahr für die amerikanische Republik keineswegs. Abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit hat die Bedrohung weiter zugenommen, auch wenn Donald Trump nicht mehr an den Schalthebeln der Macht sitzt. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe.
Erstens hat es der Ex-Präsident geschafft, mit seiner Lüge vom Wahlbetrug durchzukommen: Obwohl es keinerlei stichhaltige Beweise dafür gibt, sind heute 78 Prozent aller republikanischen Wähler davon überzeugt, dass die Wahl vom November 2020 nicht regelkonform abgelaufen und Joe Biden ein unrechtmäßiger Präsident sei. Der missglückte Coup vom 6. Januar, in dessen Folge fünf Menschen starben, wurde zum harmlosen Spaziergang umgedeutet, die Randalierer zu Opfern und Helden stilisiert.
Dieser breit angelegte Schwindel bildet – zweitens – die argumentative Basis für eine Änderung der Wahlgesetze in den Bundesstaaten. Sie zielen darauf ab, möglichst viele Wähler der Demokraten von der Stimmabgabe fernzuhalten und den Parlamenten freie Hand zu geben, um Wahlergebnisse zu überstimmen. Verlieren, ein an sich normaler Vorgang in einer parlamentarischen Demokratie, ist im Plan der Republikaner nicht mehr vorgesehen. Eine von zwei Parteien im amerikanischen Staatsgefüge behält sich das Recht vor, das Resultat von fairen Wahlen nur noch dann zu akzeptieren, wenn sie den Sieger stellt.
Die Vereinigten Staaten werden vielfach als „Experiment der Selbstregierung“bezeichnet, so als befände sich die älteste Demokratie der Welt seit über zwei Jahrhunderten in einem vorläufigen, unfertigen Zustand. In vieler Hinsicht trifft dies wohl zu. Doch Experimente können Rückschläge erleiden oder ganz scheitern. Ein Jahr nach dem Sturm auf das Kapitol ist die amerikanische Republik so nahe an ihrer Soll-Bruchstelle angelangt wie wohl nie zuvor seit dem Bürgerkrieg (1861-65). Sollte es nach der Präsidentschaftswahl in drei Jahren zu einer anti-demokratischen Machtübernahme in den USA kommen, dann sind die Grundsteine dafür im Jahr 2021 gelegt worden.
Die tödliche Gefahr für die amerikanische Republik ist keineswegs gebannt.