Grabstätte zwischen Legende und Realität
Vor 100 Jahren stirbt Wilhelm Voigt alias der Hauptmann von Köpenick – sein Grab findet man heute in Luxemburg
Was verschlägt den Schuster Wilhelm Voigt, der am 16. Oktober 1906 als verkleideter Hauptmann mit ein paar Soldaten in das Köpenicker Rathaus (Köpenick ist heute ein Stadtteil Berlins) eindringt und dort die Kasse ausraubt, im Mai 1909 nach Luxemburg? Und warum wird ausgerechnet das Großherzogtum seine neue Heimat?
Die Antwort auf diese Fragen ist gar nicht so einfach: Eigentlich befindet sich Wilhelm Voigt, der im Sommer 1908 frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden ist, lediglich auf der Durchreise. Aber aus der Durchreise sollen ganze zwölf Jahre werden, in denen der aus Tilsit (heute: Sovetsk) stammende ehemalige Gauner sich als Bonvivant in der Hauptstadt des Großherzogtums etabliert. „Um den ewigen Schikanen mit der preußischen Obrigkeit zu entgehen“, soll Voigt in einem Interview gesagt haben, lässt er sich in Luxemburg nieder.
In der ehemaligen Festungsstadt streift er meist in seiner Fantasieuniform durch die Straßen, auch in seinem Auto, das er sich durch den Verkauf seiner Autobiografie und Autogrammkarten finanzieren kann und mit dem er 1919 sogar mit der Tram kollidiert, ist er häufig zu sehen. In Luxemburgs Bahnhofsviertel bezieht er ein kleines Zimmer im Haus einer Witwe namens Emilie Blum-Bernier. Mit dem Fällen der Hälfte der Obstbäume in Frau Blums Garten beginnt Voigts Vernetzung mit Luxemburg, wo er nur allzu gerne seine „Köpenickiade“weiterspielen wird.
Totgesagte leben länger
Im Juni 1912 geht die Meldung durch die gesamte deutsche Presse, der „Hauptmann von Köpenick“sei in London in einem Krankenhaus gestorben. Handelt es sich um einen Mediencoup seitens des falschen Hauptmanns ? Durch die Witwe Blum wird in Erfahrung gebracht, Voigt habe sich in die Sommerfrische in den Thüringer Wald begeben. Auf seiner Rückreise nach Luxemburg amüsiert sich der Hochstapler, als sich in den deutschen Bahnhöfen seine Todesnachricht wie ein Lauffeuer verbreitet. Sein Ableben lässt aber noch eine Dekade auf sich warten: Am Weihnachtsfest 1921 bindet ihn eine schwere Lungenentzündung ans Krankenbett, der er am 3. Januar 1922 erlegen wird. Er erhält ein protestantisches Begräbnis und ein Grab auf dem katholischen Liebfrauenfriedhof in der luxemburgischen Hauptstadt.
Als der Trauerzug mit den sterblichen Überresten des Hauptmanns – so will es zumindest die Tradition – an einer französischen Truppeneinheit vorbeikommt, soll jemand dem französischen Offizier erzählt haben, man trage den berühmten „Capitaine de Koepenick“zu Grabe. Der Offizier hat angenommen, es würde sich bei Voigt um einen verdienstvollen Hauptmann des Luxemburger Freiwilligenkorps handeln. Deshalb befiehlt er seinen Männern, gebührende Haltung anzunehmen und zu salutieren, um dem toten „Capitaine“die letzte militärischen Ehre zu erweisen.
„Alle, die da in dem stattlichen Trauerzug dem einfachen Sarg folgten, begleiteten nicht den weltberühmten Hauptmann von Köpenick, sondern den freundlichen
Nachbarn und friedlichen Bürger Wilhelm Voigt aus Tilsit zur letzten Ruhestätte in Luxemburger Erde“, wird sich Voigts Wirtin und Freundin Emilie Blum wenige Jahre später erinnern.
Der letzte Wunsch des Hauptmanns von Köpenick wenigstens „im Tode ein Fleckchen Erde mit seinem Namen zu haben, von dem er nicht vertrieben werden könne“, wird sich zunächst nicht erfüllen. Denn das Grab des Gauners, der zwischen illustren Persönlichkeiten wie dem ersten Bischof von
Norwegen und Luxemburgs Staatsminister Paul Eyschen begraben liegt, bekommt erst 1961 eine Platte, als der Zirkus Sarrasani – für Marketingzwecke – die Grabkonzession für den Zeitraum von 15 Jahren übernehmen wird.
Ein falsches Geburtsdatum
Bei der Grabinschrift – „Wilhelm Voigt, genannt Hauptmann von Köpenick, 1850-1922, gewidmet vom Circus Sarrasani, September 1961“– hat sich allerdings ein Datumsfehler eingeschlichen: Der nach Luxemburg immigrierte Ganove ist nicht 1850, sondern 1849 geboren. Dieser Irrtum wird sich erst 15 Jahre später herausstellen. Als 1975 schließlich die Grabkonzession der letzten Ruhestätte des Hauptmanns von Köpenick abläuft, kommt es – insbesondere in Deutschland – zu einem erhöhten Interesse an der köpenickschen Nekropole.
Der Senator für Bau- und Wohnungswesen der deutschen Hauptstadt
wird von Berliner Bürgern angeschrieben mit der Bitte, das Land Berlin möge doch das Grab des Schusters aus Tilsit erhalten. Sogar der Schriftsteller Carl Zuckmayer plädiert in einem Brief an die Bürgermeisterin für die Weiterpflege des am 3. Januar 1922 verstorbenen Voigt.
1919 kollidiert Wilhelm Voigt mit seinem aus Autogrammeinnahmen finanzierten Auto mit der Tram.
Wo genau die köpenicksche Legende beginnt und wo die biografische Realität aufhört, lässt sich nur schwer sagen.
Dem Druck aus dem In- und Ausland haben die Stadtväter ein positives Echo verliehen und die Grabkonzession „à perpétuité“übernommen. Ein Düsseldorfer Arzt schreibt daraufhin an die Gemeindeverwaltung in Luxemburg folgende Zeilen: „Bei diesem erfreulichen Verlauf der Dinge gestatte ich mir die feierliche Mitteilung, dass ich mich daraufhin zum 1. Ehrenpräsidenten auf Lebenszeit der hiermit von mir gegründeten ‚Gesellschaft der Freunde vom Grabe des Hauptmanns von Köpenick’ ernannt habe.“
Die Fake News bleiben bestehen
Im Herbst 1975 schreibt die Stadtverwaltung einen Ideenwettbewerb zur Gestaltung einer neuen Grabplatte aus. In Szene gesetzt werden sollte dabei der „Kleinmann“, der in seinen Gesten eingeschränkt und sogar von den Strukturen der Gesellschaft erdrückt wird. Parallel macht sich die Stadt Luxemburg Gedanken über die Grabinschrift und nimmt diesbezüglich Kontakt mit dem Autor des tragikomischen Stückes „Der Hauptmann von Köpenick“auf. In seinem Antwortschreiben suggeriert Carl Zuckmayer in einer etwas ironischen Formulierung: „Dem deutschen Eulenspiegel des XX. Jahrhunderts zum Gedächtnis”. Zurückbehalten werden aber nur die Namen „Hauptmann von Köpenick und Wilhelm Voigt sowie das – falsche – Geburtsdatum 1850 und das Todesjahr 1922.
Wo die köpenicksche Legende beginnt und wo die biografische Realität aufhört, lässt sich auch in einem Interview, das 1931 „Madame Köpenick“geben wird, nur schwer sagen: Die Witwe Blum spricht über ihren vorbildhaften Untermieter, der mit den Kindern zur Weihnachtszeit Choräle einstudiert haben soll. Der Schwägerin des „Hémecht“-Herausgebers Martin Blum und „Freiesch“des falschen Hauptmanns hat Guy Helminger jetzt eine Komödie gewidmet, die anlässlich des 100. Todestages des Hauptmanns von Köpenick im Januar 2022 im Kasemattentheater zur Weltaufführung gelangen wird. Und so erfüllen sich erneut Voigts Worte, die er zu Beginn seiner Luxemburger Zeit sagte: „Ich liebe das Theater!“