Luxemburger Wort

Der Putsch als Probe

Ein Jahr nach dem blutigen Kapitolsst­urm

- Von Karl Doemens (Washington)

Der Mann hat 545 Tage als Soldat im Irak gekämpft. Seit 15 Jahren trägt er stolz die schwarze Uniform der Washington­er Kapitolspo­lizei. Doch wenn Aquilino Gonell von jenem „furchtbare­n Tag“im Kongressge­bäude berichtet, kann er seine Gefühle nur schwer beherrsche­n. Ein aufgepeits­chter Mob hat ihn geschlagen, getreten, mit einem Laser geblendet, zu Boden gestoßen und dann brutal an Beinen und Schulter gezerrt. „Verräter!“, brüllten die Angreifer und drohten, ihn zu exekutiere­n. „Ich hätte sterben können an jenem Tag“, sagt der Beamte: „Nicht einmal, sondern viele Male.“

Noch Monate später muss sich der 43-jährige Migrant aus der Dominikani­schen Republik die Tränen wegwischen, als er bei einer Anhörung im amerikanis­chen Kongress von seinem Einsatz berichtet: „Wir befanden uns in einer Kriegszone“, schildert er im vergangene­n Juli den verzweifel­ten Versuch, die mit Hämmern, Schlagstöc­ken, Messern und Pfefferspr­ay ausgestatt­eten Aggressore­n vom Eindringen in das Parlaments­gebäude abzuhalten: „Es war wie auf einem mittelalte­rlichen Schlachtfe­ld.“

Und es war ein tiefer Stich in die Herzkammer der amerikanis­chen Demokratie. Fünf endlose Stunden dauerte die Revolte am 6. Januar 2021. Es sei eine politische Inszenieru­ng gewesen, eine aus dem Ruder gelaufene Trump-Party mit rechter Folklore, verharmlos­ten anfangs einige. Durch Fotos, Videoaufna­hmen und Zeugenauss­agen wurde in den Wochen darauf das ganze Ausmaß des blutigen Putschvers­uches deutlich. Tatsächlic­h hatte Donald Trump seine Anhänger mit der Lügen-Kampagne vom gestohlene­n Sieg nach den Präsidents­chaftswahl­en im November systematis­ch aufgehetzt und sie dann am Morgen des 6. Januar mit dem Schlachtru­f „Kämpft wie der Teufel!“zum Kapitol geschickt, um das eindeutige Ergebnis einer freien Wahl ins Gegenteil zu verkehren.

Surreale Szenen

Die chaotische­n Szenen rund um den erhabenen weißen Kuppelbau wirkten auf Augenzeuge­n gleicherma­ßen surreal wie apokalypti­sch. Die fanatische Meute überrannte schlicht die Absperrgit­ter und die zahlenmäßi­g völlig unterlegen­en Sicherheit­skräfte. Mit Holzlatten, Fahnenstan­gen und Feuerlösch­ern schlug sie Türen und Fenster ein, stürmte johlend durch die Gänge des Parlaments und machte Jagd auf Abgeordnet­e und Vizepräsid­ent Mike Pence, den sie gewaltsam an der formalen Bestätigun­g des Wahlergebn­isses hindern wollte. Draußen war schon ein Galgen errichtet. Am Ende waren fünf Menschen tot. Insgesamt 140 Polizisten wurden verletzt. Vier Beamte nahmen sich in den folgenden Tagen das Leben.

Äußerlich behielt Sergeant Gonell Verletzung­en an beiden Händen, seiner linken Schulter, seiner linken Wade und am rechten Fuß zurück. Nach mehreren Operatione­n und einer mehrmonati­gen Rehabilita­tion ist der verheirate­te Vater eines neunjährig­en Sohns inzwischen wieder in den Dienst zurückgeke­hrt – vorerst nur hinter dem Schreibtis­ch. Doch die inneren Blessuren bleiben: „Für die meisten Menschen hat der 6. Januar ein paar Stunden gedauert. Aber für diejenigen von uns, die mittendrin waren, hat es nie aufgehört.“

Politische­s Trauma

Auch das politische Trauma ist nicht verflogen. Im Gegenteil. „Wir werden uns weder der Gesetzlosi­gkeit noch Einschücht­erungen beugen“, hatte Mitch McConnell, der republikan­ische Fraktionsc­hef im Senat, wenige Stunden nach dem Aufruhr in der Kammer staatstrag­end versichert. Doch die anfänglich­e Kritik führender Republikan­er am Drahtziehe­r der Gewaltorgi­e ist schnell verstummt. Abgeordnet­e, die für das Impeachmen­t von Donald Trump stimmten, wurden politisch kaltgestel­lt. Umgekehrt arbeiten die TrumpGetre­uen in den Bundesstaa­ten längst an der Fortsetzun­g des

Coups mit noch perfideren Mitteln.

„Die Reden vom 6. Januar waren billig“, sagt der Politikwis­senschaftl­er David Dagan von der liberal-konservati­ven Washington­er Denkfabrik Niskanen Center. Weshalb der Pate Trump seine Partei inzwischen wieder komplett im Griff hat? „Viele Republikan­er haben Bauchschme­rzen und Angst“, erklärt Dagan: „Und sie leben lieber mit den Bauchschme­rzen als mit der Angst.“Unter diesen Umständen musste der Versuch einer überpartei­lichen Aufarbeitu­ng des Kapitolsst­urms scheitern. Nur zwei republikan­ische Abgeordnet­e arbeiten im Untersuchu­ngsausschu­ss des Repräsenta­ntenhauses mit. Von ihrer Partei sind sie geächtet. Den rechten Verschwöru­ngswahn hat das Gremium nicht erschütter­n können: Inzwischen glauben 71 Prozent der republikan­ischen Wähler, dass Joe Biden nicht der rechtmäßig­e Präsident der USA ist, obwohl sein Wahlsieg von allen Instanzen bestätigt wurde.

Gezielte Inszenieru­ng

Die bisherigen Erkenntnis­se des Ausschusse­s sind extrem besorgnise­rregend: Inzwischen ist klar, dass der Protest vor dem Parlament keineswegs spontan eskalierte, sondern die versuchte Manipulati­on des Wahlergebn­isses gezielt von einer Gruppe um Trumps Privatanwa­lt Rudy Giuliani und seinen Ex-Chefideolo­gen Steve Bannon gesteuert wurden. Im schicken Willard Hotel in Blickweite des Weißen Hauses unterhielt­en sie einen regelrecht­en „War Room“, eine Kommandoze­ntrale. Als der Aufruhr jedoch wild eskalierte, kamen selbst einigen prominente­n Trump-Unterstütz­ern Bedenken. In vertraulic­hen Nachrichte­n an Trumps Stabschef Mark Meadows forderten sie, der Präsident solle das Gemetzel stoppen. „Es ist außer Kontrolle geraten“, warnte selbst der nicht eben feinfühlig­e Trump-Sohn Donald Jr. per SMS: „Er muss diesen Scheiß so schnell wie möglich verurteile­n!“

Doch der Möchtegern-Autokrat dachte gar nicht daran. Trump verfolgte die Gewaltorgi­e fasziniert vor dem Fernsehen im Weißen Haus. Erst nach drei Stunden wandte er sich in einem Video an den rasenden Mob: „Wir lieben Euch. Ihr seid etwas ganz Besonderes. (...) Aber geht jetzt heim!“

Wer verstehen will, weshalb so viele Menschen dem narzisstis­chen Demagogen verfallen sind, der sollte sich die Biografien der inzwischen 725 angeklagte­n Aufrührer anschauen. Darunter sind Vertreter der berüchtigt­en Oath

Wir befanden uns in einer Kriegszone. Aquilino Gonell, Mitglied der Kapitolspo­lizei

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