Die Ruhe vor dem Sturm
Es klingt wie blanker Hohn. Ausgerechnet heute – am Jahrestag des Sturms auf das Kapitol in Washington – wollte Donald Trump eine Pressekonferenz geben, um dort wieder sein übliches Gift zu verspritzen, sich erneut als Opfer eines angeblichen Wahlbetrugs darzustellen und seine Basis weiter anzustacheln. In letzter Minute sagte der abgewählte US-Präsident jedoch ab. Mit der Begründung der „totalen Voreingenommenheit und Unehrlichkeit“der Medien und des Sonderausschusses, der den gewalttätigen Angriff seiner Anhänger auf den Kongress untersucht.
Wie bei den meisten Themen ist Amerika auch in Bezug auf den 6. Januar 2021 tief gespalten. War es wirklich ein Putschversuch, wie die Demokraten vermuten, oder lediglich ein friedvoller patriotischer Spaziergang, wie Republikaner den Gewaltausbruch verharmlosen. Die Aufarbeitung jenes schwarzen Tages kommt nur schleppend voran. Zwar wurden mehr als 700 Randalierer inzwischen angeklagt. Doch die Gefahr ist längst nicht gebannt.
Aktuelle Umfragen sollten zu denken geben. So sind gut zwei Drittel der republikanischen Wähler überzeugt, dass Joe Biden nicht der rechtmäßige Präsident der USA ist, obwohl sein Wahlsieg von allen Instanzen bestätigt wurde. Ein Viertel der republikanischen Wähler unterstützt die Kapitolerstürmung. Und 40 Prozent halten Gewalt in der Politik „unter bestimmten Umständen“für gerechtfertigt.
Seit geraumer Zeit warnen Medien und Politikwissenschaftler davor, dass die Grand Old Party einen weiteren Putschversuch plant, dieses Mal mit anderen Mitteln. Die Weichen dafür sind bereits gestellt. So wird in manchen Bundesstaaten der Wahlzugang vornehmlich für Afroamerikaner, die traditionell eher den Demokraten ihre Stimme geben, erschwert. Darüber hinaus werden Trump-Verbündete auf Schlüsselpositionen gehievt, um den Ausgang der kommenden Präsidentschaftswahl im Sinne der Republikaner zu beeinflussen.
Trotz der mahnenden Stimmen sieht es allerdings nicht so aus, als hätten Joe Biden und seine Partei den Weckruf gehört. Der heute 79-Jährige war als Versöhner angetreten, um sein Land zu einen. Doch davon ist rund ein Jahr nach Amtsantritt nicht viel zu spüren. Vielmehr sind die Demokraten in interne Flügelkämpfe verstrickt. So blockiert der demokratische Senator Joe Manchin noch immer Bidens Klima- und Sozialpaket, das ausschlaggebend für den Erfolg seiner Präsidentschaft ist. Auch sorgen die steigende Inflation und die Lieferengpässe für Unmut bei der Bevölkerung. Zurzeit sieht es also so aus, als könnte die Ära Biden lediglich eine Verschnaufpause darstellen – für Amerika und den Rest der Welt.
Falls Trump 2024 erneut als Präsidentschaftskandidat für die Republikaner antritt und gewählt wird, würde das die finale Demontage der US-Demokratie bedeuten. Eine Niederlage hingegen könnte schlimmstenfalls in einen Bürgerkrieg münden – auch wenn viele sich das heute nicht vorstellen können. Dann wird der Angriff vom vergangenen Jahr tatsächlich wie ein Spaziergang aussehen.
Die Ära Biden könnte lediglich eine Verschnaufpause darstellen.
Kontakt: francoise.hanff@wort.lu
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