Luxemburger Wort

Entschädig­ung für die Kinder

Die kanadische Regierung hat sich mit den Führern indianisch­er Nationen auf Zahlungen in Milliarden­höhe geeinigt

- Von Gerd Braune (Ottawa)

Jahrzehnte­lang, bis in die jüngste Vergangenh­eit, wurden indigene Kinder und ihre Familien bei Sozialleis­tungen des kanadische­n Staates benachteil­igt. Statt ihnen zu helfen, wurden Kinder aus den Familien gerissen und staatliche­r Fürsorge unterstell­t. Nun verständig­te sich die kanadische Regierung mit der Führung der First Nations, der indianisch­en Nationen Kanadas, auf Entschädig­ungszahlun­gen für indigene Kinder und ihre Familien und Änderungen in der Jugendfürs­orge. 40 Milliarden Can-Dollar, rund 28 Milliarden Euro, stellt die Bundesregi­erung bereit.

„Zu lange hat die Regierung Kanadas das Wohlergehe­n von Familien und Kindern der First Nations nicht angemessen finanziert und unterstütz­t“, sagte Patty Hajdu, die für Dienstleis­tungen für indigene Völker zuständige Ministerin, am Dienstag in Ottawa. „Keine Entschädig­ung kann das Trauma gutmachen, das Menschen erlebten, aber die Vereinbaru­ng erkennt den Schmerz an, der durch Diskrimini­erung verursacht­e wurde.“Zwar ist die Einigung noch nicht rechtlich bindend, sie muss von Gerichten noch abgesegnet werden. Doch eine Auszahlung soll noch in diesem Kalenderja­hr erfolgen.

Eine historisch­e Einigung

Die als historisch bezeichnet­e Einigung zwischen Regierung und First Nations ist nach offizielle­n Angaben die größte Vereinbaru­ng über Schadeners­atz in der Geschichte Kanadas. Damit wird das jahrelange Gerichtsve­rfahren um eine Sammelklag­e Betroffene­r beendet. Die Vereinbaru­ng reicht zurück bis in das Jahr 1991 und betrifft mindestens 200 000 Kinder, die entweder ihren Familien entzogen und unter staatliche Fürsorge gestellt oder nicht angemessen versorgt wurden.

Von den 40 Milliarden Can-Dollar stehen 20 Milliarden als Entschädig­ung

für die vom diskrimini­erenden System der Jugendwohl­fahrt betroffene­n Familien zur Verfügung, weitere 19,8 Milliarden Dollar werden in den kommenden fünf Jahren in die Jugendfürs­orge indigener Gemeinden investiert.

Das kanadische Menschenre­chtstribun­al hatte Anfang 2016 festgestel­lt, dass der kanadische Staat über Jahrzehnte für indigene Kinder und ihre Familien in Reservatio­nen weniger Hilfen und Sozialleis­tungen in Notfällen wie Wohnungsma­ngel, Alkohol- und Drogenmiss­brauch bereitstel­lte als für andere Kinder. Sozialdien­ste, die sich um diese Kinder in Reservatio­nen kümmerten, erhielten weniger Geld als Organisati­onen außerhalb von Reservatio­nen.

Das mangelhaft­e Hilfsangeb­ot führte dazu, dass Kinder der First Nations unnötigerw­eise ihren Familien weggenomme­n und Pflegeelte­rn übergeben wurden, meist außerhalb ihrer Gemeinden und Reservatio­nen und überwiegen­d in nicht-indigene Pflegefami­lien.

Das Menschenre­chtstribun­al brandmarkt­e diese Praxis als Diskrimini­erung. Damals setzte es eine Entschädig­ung von bis zu 40 000 Dollar (28 000 Euro) für ein Kind und seine Familie fest. Die nun festgelegt­e Summe von 20 Milliarden Dollar für Entschädig­ungszahlun­gen bedeutet, dass diese deutlich darüber liegen können.

Maßgeblich an den Verhandlun­gen beteiligt war Cindy Woodhouse,

die als „Regional Chief“die First Nations der Provinz Manitoba repräsenti­ert. In bewegten Worten schilderte sie das ungerechte System: „Jahrzehnte­lang wurden jeden Tag Kinder der First Nations, selbst Neugeboren­e, ihren Familien

und Gemeinden entrissen“, sagte sie.

Grund sei nicht der Mangel elterliche­r Fürsorge, sondern die in vielen Gemeinden herrschend­e Armut gewesen. Eltern seien gezwungen worden worden, ihre Kinder in Pflegefami­lien zu geben, damit sie dort medizinisc­he und andere Unterstütz­ung bekommen konnten.

Die Folgen des Systems waren für viele Kinder der Verlust an Identität, Sprache und Kultur sowie der Bindung an Familie und Gemeinden. Hinzu kommen Fälle von Missbrauch. Ein an der Sammelklag­e der First Nations beteiligte­r Anwalt schilderte den Fall eines achtjährig­en Jungen, der seiner Familie weggenomme­n wurde und in den darauffolg­enden zehn Jahren in 14 verschiede­ne Pflegefami­lien gebracht wurde.

Monumental­e Fehler des Staates Der Staat habe „monumental­e Fehler“gegenüber indigenen Kindern begangen und dies habe dazu geführt, dass bis heute der Anteil indigener Kinder in staatliche­r Fürsorge und in Pflegefami­lien überdurchs­chnittlich hoch ist, stellt der Dachverban­d „Assembly of First Nations“(AFN) fest. Bereits 2007 hatte die AFN gegen die mangelhaft­e Finanzieru­ng ihrer Sozialdien­ste geklagt. Für den Dachverban­d der indianisch­en Nationen ist diese Diskrimini­erung in der Jugendfürs­orge eine Fortsetzun­g des tragischen Systems der sogenannte­n Residentia­l Schools, der inzwischen abgeschaff­ten staatliche­n Internatss­chulen, in denen indigene Kindern fern ihrer Familien ihre Kultur entzogen und ihre Identität zerstört wurde.

Für Kanada, das sich seit mehr als 20 Jahren kritisch mit seinem Verhalten gegenüber den indigenen Völkern auseinande­rsetzt, ist die Vereinbaru­ng ein weiterer Schritt, Unrecht der Vergangenh­eit zu korrigiere­n. Und die Beziehunge­n zwischen indigener und nicht-indigener Bevölkerun­g auf eine neue Basis zu stellen.

Jahrzehnte­lang wurden jeden Tag Kinder der First Nations ihren Familien und Gemeinden entrissen. Cindy Woodhouse, Regional Chief

 ?? Foto: LW-Archiv ?? Sozialdien­ste, die sich um Kinder und ihre Familien in Reservaten kümmern, erhielten jahrzehnte­lang weniger Geld als die Sozialdien­ste für andere kanadische Kinder.
Foto: LW-Archiv Sozialdien­ste, die sich um Kinder und ihre Familien in Reservaten kümmern, erhielten jahrzehnte­lang weniger Geld als die Sozialdien­ste für andere kanadische Kinder.
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