Die Enttäuschung
Über Fehden, Fehler und falsche Erwartungen im ersten Amtsjahr von US-Präsident Joe Biden
Der Präsident schnaubte vor Wut, als er vergangene Woche seine Parteifreunde auf dem Kapitolshügel besuchte. Selten gab „Onkel Joe“, wie Biden wegen seiner volkstümlichen Art auch genannt wird, so viel Frustration zu erkennen, wie nach dem Treffen mit den 50 Demokraten, die im US-Senat eine hauchdünne Mehrheit halten. Ausgerechnet hier, in der Kammer, die Biden über vier Jahrzehnte prägen half, hatten ihn die Seinen abermals im Stich gelassen. Und das bei einem Thema, das so zentral für seine Präsidentschaft ist wie das Versprechen an die Amerikaner, die Nation zu versöhnen.
„Solange ich atmen kann, solange ich im Weißen Haus sitze“, ventilierte der bei seiner Wahl älteste Präsident in der amerikanischen Geschichte, werde er sich für freie und faire Wahlen starkmachen. „Wie bei allen großen Fortschritten der Bürgerrechtsbewegung, werden wir es noch einmal versuchen, wenn es diesmal nicht klappt.“
Eine Stunde vor Bidens Eintreffen im Kongress erteilte ihm die demokratische Senatorin aus Arizona, Kyrsten Sinema, mit einer Brandrede einen Korb. Öffentlich. Demütigend. Und ohne Vorwarnung. Sie unterstütze das nationale Wahlgesetz, sei aber nicht bereit, dafür die als Filibuster bekannte Senatsregel zu ändern. Senator Joe Manchin aus dem Kohlestaat West-Virginia pflichtete dem bei.
Einmal mehr war Bidens Reformeifer damit nicht an der Betonmauer der Trump-Republikaner im Kongress zerschellt, sondern an Wichtigtuern in der eigenen Partei. Und an den politischen Realitäten, die eine knappe Mehrheit von gerade einmal fünf Stimmen im Repräsentantenhaus und einer Stimme im Senat – die von Vizepräsidentin Kamala Harris – in einem tief gespaltenen Land mit sich bringt.
„Wenn sie nur 50 Senatoren haben, ist jeder Senator ein König“, beschreibt der Politologe Larry Sabato von der University Virginia die Ausgangslage. In einem bunten und uneinigen Sammelbecken, wie dem der US-Demokraten, ist es nach Ansicht von Experten fast ein Wunder, dass Biden im ersten Jahr seiner Amtszeit überhaupt ein 1,9 Billionen US-Dollar schweres Covid-19-Hilfsgesetz und das eine Billion US-Dollar große Infrastruktur-Paket durch den Kongress manövrieren konnte.
Statt diese Erfolge zu feiern, machte das Washingtoner Urgestein Anfängerfehler. Biden erlaubte es seinem Team, unrealistische Erwartungen zu schüren. Vergleiche mit den Reformgesetzen Franklin D. Roosevelts oder Lyndon B. Johnsons weckten falsche Assoziationen. „Die Leute messen Sie immer an den Erwartungen, die Sie gesetzt haben“, sagt der Stratege Doug Sosnik, der als politischer Direktor im Weißen Haus Bill Clintons ein Meister darin war, kleine Fortschritte als große Durchbrüche zu verkaufen.
Die Abfuhr bei der nationalen Wahlgesetzgebung ist aus Sicht vieler Experten ein Musterbeispiel schlechten politischen Handwerks im Weißen Haus. Obwohl Biden seine Präsidentschaft der Mobilisierung bei den Afroamerikanern zu verdanken hat, schaute er lange tatenlos zu, wie die Republikaner in den Bundesstaaten den Zugang zur Wahlurne einschränkten und unparteiische Wahlleiter mit loyalen TrumpSympathisanten ersetzen.
Der Kolumnist der „New York Times“, Charles Blow, kritisiert Biden dafür, „erst in den Kampf eingetreten zu sein, als andere Krieger schon bluteten, blaue Flecken hatten oder erschöpft waren.“
Er hat den Covid-Test nicht bestanden. Britische Zeitung „The Guardian“
Vertrauensvorschuss der Wähler Zurück bleibt Frust in den eigenen Reihen. Wie bei der ausgebliebenen Reform der Einwanderung, dem Scheitern der Klimareformen im Rahmen des sogenannten „Build Back Better“-Pakets, dem Schutz von Minderheitsrechten, der Verteidigung der Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen in den USA, dem Erlass der Ausbildungsschulden für Millionen College-Absolventen oder dem Einlösen des Versprechens eines universalen Anspruchs auf freie Kindergartenplätze.
Die Amerikaner wählten in der Geschichte oft gegenteilige Charaktere zum Amtsinhaber als Nachfolger ins Weiße Haus. Auf den notorischen Lügner Richard Nixon folgte der ehrliche Erdnussfarmer Jimmy Carter. Den ersten schwarzen Präsidenten, Barack Obama löste der weiße Rassist Donald Trump ab. Die Qualität, mit der Biden nach Jahren des Chaos überzeugte, war seine Unaufgeregtheit. Joe „Normalo“versprach Tweets mit Kompetenz zu ersetzen, Spaltung durch Brückenbauen.
„Die Menschen wollen wissen, dass jemand die Verantwortung übernimmt, anpackt und das Chaos hinter uns bringt“, beschreibt Bidens Redenschreiber Matt Teper die Stoßrichtung der Ausführungen zur Amtseinführung auf den Stufen des Kapitols vor einem Jahr. Die Wähler hatten dem „guten Mann aus Delaware“dafür einen Vertrauensvorschuss gegeben. Während die Demokraten nur soeben eine Mehrheit im Kongress erringen konnten, erhielt Biden mit rund 81 Millionen Stimmen sieben Millionen mehr als der Amtsinhaber und so viele wie noch kein anderer Präsident vor ihm.
Wahr ist aber auch, dass Biden, wie kein Zweiter außer Trump, im ersten Amtsjahr seiner Präsidentschaft abstürzte. Zustimmungswerte von im Schnitt 42 Prozent markieren einen tiefen Fall von den 57 Prozent bei der Amtseinführung. Dieser beispiellose Popularitätsverlust verlangt eine Erklärung.
Viele Experten gehen zur Amtseinführung 2021 zurück, die mit einer bewegenden Zeremonie für die bis dahin 400 000 Corona-Toten vor dem Lincoln-Memorial begonnen hatte. Biden versprach, den Kampf gegen die Pandemie zu einer nationalen Priorität zu machen, die fehlende Empathie Trumps durch Anteilnahme zu ersetzen. Seine Regierung werde sich nicht von Politik leiten lassen, „sondern stets der Wissenschaft folgen“. Mit jeder neuen Covid-19Welle sackten seine Zustimmungswerte weiter in den Keller.
Die gescheiterte Impfoffensive
Zum Verhängnis wurde Biden sein alleiniger Fokus auf die Impfkampagne. Ohne dabei zu bedenken, dass sein Vorgänger die Pandemie erfolgreich politisiert hatte. Die Weigerung, Maske zu tragen, sich impfen zu lassen oder Abstand zu halten, sind in den USA zu politischen Statements geworden. Diese haben dazu beigetragen, dass sich das Virus nirgendwo so schnell und tödlich verbreiten konnte wie in den Vereinigten Staaten. Etwa vier von zehn Amerikanern sind nicht geimpft.
Die eine Milliarde Schnelltests, die Biden in den vergangenen Tagen als Schutz auch für die Geimpften angesichts der Durchbrüche bei der hochansteckenden Omikron-Welle versprach, kommt aus Sicht vieler Kritiker zu spät. Diese hatten auf eine vorausschauende, von der Wissenschaft geleitete Politik gehofft. „Er hat den Covid-Test nicht bestanden“, fasst der „Guardian“die Stimmung zusammen. Die Hälfte der mehr als 820 000 Corona-Toten starb während Bidens Amtszeit.
Falsche Erwartungen erzeugte der Präsident auch bei der Inflation, die im vergangenen Monat mit einem Zuwachs von sieben Prozent so sehr stieg wie zuletzt vor 40 Jahren. Das Weiße Haus spielte
Für viele Amerikaner markierte der Einzug Joe Bidens ins Weiße Haus vor einem Jahr das Ende eines Alptraums. Von der Begeisterung ist allerdings nicht mehr viel geblieben. die leeren Supermarkt-Regale, Lieferengpässe und Preisanstiege als „vorübergehendes Phänomen“herunter. Gleichzeitig erlebten die Arbeitnehmer, wie die Inflation ihre Lohnzuwächse auffraß.
Der Präsidentschaftshistoriker Allan Lichtman erkennt darin den Grund, warum viele Amerikaner glaubten, Biden habe keinen guten Job gemacht. „Tatsächlich ist die Wirtschaft sehr viel besser als ihr Ruf“, sagt Lichtman. So schloss der S&P-Index mit einem Plus von 29 Prozent deutlich besser als im Vergleichszeitraum unter Trump ab (+ 17 Prozent). Kein Präsident schaffte so viele Arbeitsplätze im ersten Amtsjahr wie Biden. Und mit 3,9 Prozent liegt die Arbeitslosigkeit niedriger als vor der Pandemie.
Doch Wahrnehmung ist in der Politik alles. Und diese nahm insgesamt schweren Schaden durch das Rückzugs-Chaos in Afghanistan im August 2021. „Bidens Team hat erhebliche Fehler gemacht“, sagt Politologe Sabato. Letztlich sei der Präsident verantwortlich für seine Berater. Ein geordnetes Ende des längsten Kriegs Amerikas hätte ein großes Verdienst werden können. „So ziemlich jeder wollte aus Afghanistan raus, Demokraten und Republikaner.“
Auch die NATO-Verbündeten standen dem Rückzug positiv gegenüber, fühlten sich aber durch die unkoordinierte Vorgehensweise im Dunkeln gelassen. Der Alleingang rief schlechte Erinnerungen an den Vorgänger wach. Biden versuchte, den Fehler zu korrigieren und bemüht sich in der Ukraine-Krise nun um einen engen Schulterschluss mit den Alliierten in Europa.
Biden braucht schnelle Erfolge
Im Inneren wirkten die Bilder vom Desaster am Hindukusch nachhaltiger als auf internationaler Ebene. Denn sie zerstörten das Narrativ des kompetenten Präsidenten so sehr wie die anhaltende Inflation und das Eingeständnis des Top-Infektiologen Anthony Fauci, dass sich fast jeder mit Omikron infizieren werde.
„Es braucht nach diesem Jahr fast ein Wunder für ein Comeback“, sagt Karlyn Bowman von der konservativen Denkfabrik American Enterprise Institute. Andernfalls drohte eine schwere Schlappe bei den Zwischenwahlen zum Kongress im kommenden November. Einschließlich eines Verlustes der Mehrheit im Senat und Repräsentantenhaus. Biden wäre dann das, was Amerikaner eine „lahme Ente“nennen. Damit wäre die Präsidentschaft des Demokraten quasi am Ende.