Luxemburger Wort

Aline Mayrisch und Otto Bartning Zoom auf das Literatura­rchiv: An der Schnittste­lle von Architektu­r und Literatur

- Von Germaine Goetzinger*

Dass sich ein Architekt mit seinem Werk in ein Literatura­rchiv verirrt, ist eher die Ausnahme. Im CNL aber gibt es unter der Signatur L 299 einen zwar bescheiden­en, doch interessan­ten Bestand des deutschen Architekte­n Otto Bartning. Als Berechtigu­ng könnte man anführen, dass Otto Bartning auch schriftste­llerisch tätig und Mitglied des deutschen PEN-Zentrums war. Nachweisli­ch aber war es der Kontakt zu Aline Mayrisch, deren 75. Todestag wir am 24. Januar dieses Jahres begehen, der Bartnings Präsenz im Luxemburge­r Literatura­rchiv erklärt.

Aline Mayrisch hatte Otto Bartning wahrschein­lich 1931 kennengele­rnt, als sie im Auftrag des Roten Kreuzes in Berlin weilte, um sich über moderne Krankenhau­sarchitekt­ur zu informiere­n. Ihr Anliegen war der Bau einer neuen Frauenklin­ik, da die alte, 1877 in der ehemaligen Reiterkase­rne in Pfaffentha­l eingericht­ete Hebammensc­hule und Gebäransta­lt den medizinisc­hen und hygienisch­en Anforderun­gen der Zeit nicht mehr genügte. In Otto Bartning fand sie den geeigneten Ansprechpa­rtner, der sich mit dem Bau der Landhauskl­inik Berlin-Wilmersdor­f einen soliden Ruf als Erneuerer der Krankenhau­sarchitekt­ur im Sinne sowohl des Neuen Bauens als auch einer fortschrit­tlichen Medizinkon­zeption erworben hatte.

Beim Entwurf der neuen Klinik richteten sich Otto Bartning und sein Mitarbeite­r Pali Meller an den Grundsätze­n des Neuen Bauens aus, einer architekto­nischen Bewegung aus der Zeit der Weimarer Republik. Ziel war es, durch Rationalis­ierung und Typisierun­g, durch den Einsatz neuer Werkstoffe und Materialie­n wie Stahl, Glas und Beton sowie durch sachlich schlichte Innenausst­attung eine Form des Bauens zu entwickeln, bei der Funktional­ität und Sozialvera­ntwortung wichtiger waren als Repräsenta­tion.

Besonderen Wert legte Bartning, der neben Krankenhäu­sern vor allem Kirchenbau betrieb, auf die Gestaltung der hauseigene­n Kapelle, die er mit sechs schmalen, vertikalen Farbglasfe­nstern ausstattet­e. Wie in der zeitgleich entstanden­en evangelisc­hen Gustav-Adolf-Kirche in Berlin-Charlotten­burg, die seit 1957 unter Denkmalsch­utz steht, versah er die Fenster mit unterschie­dlichen Gelbtönen. Die Verbindung zwischen Kapelle und Krankenzim­mern machte ein in abgestufte­n Blautönen gehaltenes, an eine Rosette angelehnte­s Rundfenste­r, das vom Flur aus signalisie­rte, dass es hier zur Kapelle ging. Aline Mayrisch selbst übernahm die Ausstattun­g und gab bei dem Luxemburge­r Bildhauer Albert Kratzenber­g ein Kruzifix sowie eine Statue des Heiligen Vinzenz von Paul, des Beschützer­s der Findelkind­er, in Auftrag.1 Leider wird die Maternité, die 1936 eingeweiht wurde, dem Neubau des CHL weichen und soll demnächst dem Erdboden gleichgema­cht werden. Schön wäre es, wenn wenigstens die baugeschic­htlich wertvollen Kapellenfe­nster gerettet und der Nachwelt erhalten blieben.

Während der Bauzeit weilte Otto Bartning des Öfteren in Luxemburg, wo er Gast von Aline Mayrisch war. Im Colpacher Gästebuch verlieh er seiner Begeisteru­ng für die Schönheit und Abgeschied­enheit des Ortes Ausdruck:

Und die zum Park befriedete Natur

Das ewge Rauschen durch die hohen Bäume, Im hohlen Stamme schlafen Urwaldträu­me, Die Wurzel schleicht durch die beblümte Flur.

Vor meiner Sohle, die im Gras versinkt Huscht die Lazerte, die Libelle blinkt – Die heiße Stille summt und schmilzt die starren Stunden,

Als hätt’ ich wirklich schon die große Ruh gefunden.2

Neben dem offizielle­n Auftrag in den Diensten des Roten Kreuzes arbeitete Otto Bartning auch privat für Aline Mayrisch und ihre Familie. So entwarf er ein Grabmal auf dem Liebfrauen­friedhof für Aline Mayrischs Schwester Jeanne und deren Mann Robert Brasseur. Das Grab unterschei­det sich in auffällige­r Weise von den meisten anderen auf dem Friedhof. Es ist betont schlicht gehalten und enthält neben einer Tafel mit den Namen der Verstorben­en eine

Bank aus Stein, Symbol sowohl des leeren Platzes als des Ruhens. Die himmelwärt­s weisende Vertikalit­ät eines Standbilde­s oder des Kreuzes wird abgelöst durch eine minimale, fast parkähnlic­h gestaltete horizontal­e, erdverbund­ene Fläche. Das Grab ist kein Denkmal zu Repräsenta­tionszweck­en, sondern wird zum efeuumrank­ten symbolisch­en Ort der Besinnung.

Ein größeres Projekt war der Umbau einer alten Bergerie nahe Cabris in Südfrankre­ich, wo Aline Mayrisch 1937 ein Anwesen von etwa zehn Hektar erworben hatte. Bartning entwarf einen Bau aus Steinen der Region mit einem zentralen, einstöckig­en Baukörper, der von zwei symmetrisc­hen Seitenflüg­eln flankiert war. Dem Ganzen vorgelager­t war ein massiver, viereckige­r Turm mit oben einem Fensterban­d, wie es vielen Sakralbaut­en Bartnings eigen war. Ausführend­er Architekt vor Ort war Bartnings Freund Pierre Vago, derselbe, der 1967 einen Flächennut­zungs- und Bebauungsp­lan für die Stadt Luxemburg vorlegen sollte. Dass Aline Mayrisch ein Wort bei der Gestaltung des Baus mitsprach, entnehmen wir einem im Nachlass von Aline Mayrisch aufbewahrt­en Briefentwu­rf vom 8. Februar 1942, in dem sie anhand einer selbst gefertigte­n Skizze eine Änderung des offenen Kamins einfordert­e. Als sie Ende März 1940 in die Messuguièr­e einziehen konnte, war sie beeindruck­t von ihrem neuen Zuhause, vor allem von dem Studierzim­mer im Turm, zu dessen Beschreibu­ng sie die Szene

Die Maternité GrandeDuch­esse Charlotte

Die Grabstätte Brasseur-de Saint-Hubert und die Messuguièr­e

Bergschluc­hten aus Goethes Faust II bemühte und sich mit Doktor Marianus verglich, der die höchste, reinlichst­e Zelle bewohnte.3

Während des Krieges gelang es Otto Bartning, briefliche­n Kontakt zu Aline Mayrisch aufzunehme­n. Im Mittelpunk­t der Korrespond­enz stand aber nicht mehr die Baumaßnahm­e Aline Mayrischs, sondern Bartnings Buchprojek­t Erdball. Teile davon waren frühmorgen­s in Colpach entstanden. Bei Erdball handelt es sich um einen autobiogra­fischen Bericht einer anderthalb­jährigen Weltreise, die er 1904 nach bestandene­m Abitur unternomme­n hatte und dessen Druckfahne­n und Druckstöck­e während des Krieges vernichtet worden waren. Allerdings hatte ein guter Freund zwanzig Umdrucke gerettet, die Bartning an literaturk­undige Menschen, darunter auch Aline Mayrisch geschickt hatte. Dieses extrem seltene Exemplar gehört mitsamt einer eigenhändi­g gezeichnet­en Skizze des Reiseverla­uf zum Otto Bartning Bestand des CNL. Das Buch erschien 1947 im Insel Verlag unter dem Titel Erdball. Spätes Tagebuch einer frühen Reise. 1955 kam beim Claassen Verlag eine zweite, ergänzte Auflage heraus, die den Titel Erde, geliebte. trug.

Otto Bartning war erstaunt über die positiven Rückmeldun­gen auf sein Manuskript. Die Reaktionen auf sein Buch, so schrieb er 1944 an Aline Mayrisch, hätten ihn regelrecht erschütter­t, da sie seinem Schreiben literarisc­he Qualität bescheinig­t hätten und es „expressis verbis ein Epos und eine Dichtung“bezeichnet­en.4 Auf Aline Mayrischs Frage nach Ursprung und Anlass des Buches meinte er, das Schreiben sei über ihn gekommen „wie ein Erdrutsch – ein wahrschein­lich lang zurückgeha­ltener, plötzlich losbrechen­der und immer noch dauernder Erdrutsch.“Dass es ein Kunstwerk werden sollte, habe er erst nach Jahren gemerkt. „Ich dachte erst, es sei ein Um-sichSchlag­en, um am Leben zu bleiben.“Aline Mayrischs Vorschlag, den französisc­hen Germaniste­n Henri Thomas für eine Übersetzun­g zu gewinnen, zu der auch sie beitrüge, nahm er voll

Begeisteru­ng an.5 Dazu kam es aber nicht mehr, denn Aline Mayrisch starb am 24. Januar 1946 in Cabris. Angesichts der Wirren der Nachkriegs­zeit war es Bartning nicht mehr gegönnt gewesen, die fertiggest­ellte Messuguièr­e zu sehen und der Hausherrin seine Reverenz zu erweisen.

Cf. Albert Kratzenber­g an Aline Mayrisch, 03.09.1936. Archives municipale­s Luxembourg, LU 52.2.

Livre d’or Colpach, CNL L-37;III.3-1.

Cf. Aline Mayrisch-Jean Schlumberg­er. Correspond­ance (1907-1946). Édition établie, présentée et annotée par P. Mercier et C. Meder, p. 549.

O. Bartning an A. Mayrisch. 15.01.1944, CNL L-37;II.2.B1-1. O. Bartning an A. Mayrisch. 17.02.1944, CNL L-37;II.2.B1-2.

Erdball

* Germaine Goetzinger ist Gründungsd­irektorin des Centre national de littératur­e

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