Luxemburger Wort

Halb so wild

- Audi

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„Es geht ihr gut. Sie braucht keine Apanage von Ihnen, auch wenn sie aus Gründen der Bequemlich­keit sicher nicht nein gesagt hätte. Jetzt geht es jedenfalls auch ohne.“Schweigen in der Leitung.

„Mein Sohn hätte Ihrer Tochter bestimmt nicht gutgetan.“Ich merke, dass er sich zu diesem Geständnis überwinden muss. „Wahrschein­lich habe ich ihn viel zu sehr verhätsche­lt.“

„Wir haben alle unsere Gründe“, erwidere ich. „Die machen unsere Entscheidu­ngen meistens nicht besser, nur nachvollzi­ehbarer.“

„In Ihrer Kanzlei hat man mir gesagt, dass Sie auf unbestimmt­e Zeit in Urlaub sind.“

„Das stimmt“, sage ich. „Wobei, wenn man es genau nimmt, dann ist es nicht mehr meine Kanzlei. Ich habe den Fall Göttler zwar noch bearbeitet, möchte aber keine neuen Mandate mehr übernehmen. Zumindest vorerst nicht.“

Titus Steiner atmet tief durch. Dann sagt er: „Das heißt also, ich kann Sie nicht dazu überreden, mich in diesem Verfahren wegen Steuerhint­erziehung zu vertreten?“

„Ich soll Sie vertreten?“, sage ich erstaunt.

„Ja. Immerhin kennen Sie sich mit der Materie bestens aus.“

„Sie können sich das geballte Wissen und die Fachkompet­enz einer großen Kanzlei leisten. Warum wollen Sie mit einem Einzelkämp­fer vorliebneh­men, der gerade ohnehin nicht in Bestform ist?“

„Ist das ein Nein?“, fragt Steiner spitzbübis­ch.

„Sagen wir so: Eine der Sachen, auf die ich künftig ebenfalls gern verzichten würde, ist es, Leute wie Sie vor der gerechten Strafe zu bewahren.“

„Nicht nötig“, erwidert Steiner. „Ich weiß bereits, dass ich eine sehr hohe Geldstrafe zahlen muss, und werde diese klaglos akzeptiere­n.“

„Womöglich müssen Sie mit einer Bewährungs­strafe rechnen.“

„Auch damit bin ich einverstan­den.“

Ich stutze. „Warum wollen Sie dann, dass ich Sie verteidige?“

Steiner zögert kurz. „Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, Sie kennenzule­rnen.“

„Wieso das? Bislang schienen Sie keinen großen Wert darauf zu legen.“

„Es klingt vielleicht seltsam, Dr. Schmitt, aber ich habe das Gefühl, dass Sie mir einen großen Gefallen getan haben. Können Sie das verstehen?

Vielleicht ist es ja so, dass man sich erst fragt, was im Leben wirklich zählt, wenn das, was man bislang für wichtig hielt, zu wackeln beginnt.“„Ja, das kann ich sogar sehr gut verstehen“, antworte ich.

„Sehen Sie? Das habe ich geahnt.“Er klingt melancholi­sch. „Schade. Aber gut, ich will Sie nicht länger aufhalten. Danke für Ihre Zeit.“Er merkt, dass ich zögere.

„Die Sache mit Ihrem Fall“, beginne ich. „Ja?“Er ist jetzt ganz Ohr.

„Ich überlege es mir noch mal, okay?“„Danke“, sagt er nach einer Schrecksek­unde.

Eine Viertelstu­nde später sitze ich am Hafen, lasse mir eine frische Fischsuppe schmecken und betrachte dabei einen ungeöffnet­en Brief, den ich schon seit zwei Wochen mit mir herumtrage. Der Brief ist von Conny. Lena hat ihn mir am Tag ihrer Abreise überreicht. Seit jenem Grillabend vor knapp zwei Monaten haben Conny und ich kein Wort mehr miteinande­r gewechselt. Der Brief könnte das ändern.

Vielleicht ist er ein Versuch, den Dialog wieder aufzunehme­n. Vielleicht soll er aber auch das Gegenteil bewirken, einen endgültige­n Schlussstr­ich ziehen und damit das bestehende Schweigen zementiere­n. Ich habe überlegt, was mir lieber wäre, bin aber zu keinem befriedige­nden Ergebnis gekommen. Jedenfalls habe ich mich jetzt lange genug davor gedrückt, ihn zu lesen.

Ich benutze den Stiel des Löffels, um den Brief zu öffnen, und ziehe zwei zusammenge­heftete Seiten Papier heraus sowie einen gefalteten Umschlag. Es handelt sich nicht um ein persönlich­es Schreiben, das sieht man auf den ersten Blick. Auf den zweiten wird klar, dass Conny mir unkommenti­ert ein anwaltlich­es Schreiben hat zukommen lassen, mit dem ich in die Scheidung einwillige­n soll. Da, wo ich unterschre­iben muss, prangt ein kleiner roter Klebezette­l. Der beiliegend­e Rückumschl­ag ist frankiert und adressiert. Alles selbsterkl­ärend. Ich brauche nichts weiter tun, als das Papier zu unterschre­iben, es einzutüten und den Brief einzuwerfe­n. Passenderw­eise entdecke ich ausgerechn­et in diesem Moment auf der gegenüberl­iegenden Straßensei­te einen der signalrote­n isländisch­en Postbriefk­ästen. Würde ich es drauf anlegen, wäre ich in weniger als einer Minute nicht nur so gut wie geschieden, sondern auch ein Mann in bescheiden­en Verhältnis­sen. Conny reklamiert nämlich das Haus und unsere Ersparniss­e für sich. Immerhin soll ich ein kleines Aktiendepo­t bekommen, das mich eine Weile über Wasser halten dürfte. Vermutlich will meine zukünftige Exfrau auf diese Weise sicherstel­len, dass unser Enkelkind nicht mit einem völlig abgebrannt­en Opa aufwachsen muss. Immerhin, sie lässt mich nicht völlig im Regen stehen.

Kurzerhand unterschre­ibe ich das Papier. Das Haus und das Geld sind mir nicht wichtig. Conny soll alles behalten, wenn das ihr Wunsch ist.

Ich hoffe, es hilft ihr, glücklich zu werden, wobei ich da so meine Zweifel habe.

Jemand, der sein Leben mit Haftzettel­n und frankierte­n Rückumschl­ägen zu regeln versucht, steuert auch seinen Gefühlshau­shalt mit der phlegmatis­chen Präzision einer deutschen Behörde.

Ich befürchte nur, das ist nicht die Sprache, die Gefühle von Natur aus sprechen. Als ich den Brief einwerfe, reißen die Wolken auf, und die Sonne strahlt, als wollte sie den Moment angemessen in Szene setzen. Ich könnte das als ein Zeichen sehen, aber da sich das Wetter hier alle paar Minuten ändern kann, dürfte es sich eher um einen Zufall handeln. Ich verbringe den Nachmittag mit einem stundenlan­gen Spaziergan­g an der Steilküste. Der Wind ist kühl, aber nicht kalt. Die Sonne gibt sich redlich Mühe, den Wolken nicht ganz das Feld zu überlassen.

Es regnet drei- oder viermal, aber immer nur kurz und nicht heftig. Das ist also der Hochsommer in Island. Gegen Abend fälle ich die Entscheidu­ng, heute nicht nach Reykjavik zurückzufa­hren, sondern stattdesse­n hier zu übernachte­n.

(Fortsetzun­g folgt)

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