Stadt, Land, Stress
Camille Perchoux vom LISER erforscht, wie sich unsere Umgebung auf das Wohlbefinden auswirkt
Wie beeinflusst die Umwelt unser Stressniveau? Dieser Frage geht Camille Perchoux (34) vom Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (LISER) in ihrer Arbeit nach. Die ausgebildete Geografin hat im Bereich Öffentliche Gesundheit mit Schwerpunkt Epidemiologie promoviert und versucht als Gesundheitsgeografin Konzepte und Methoden aus beiden Bereichen zu kombinieren. Ihr Projekt „FragMent“wurde nun vom European Research Council (ERC) ausgewählt und mit einer fünfjährigen Finanzierung bedacht.
Camille Perchoux, worum genau geht es in Ihrem Projekt?
Wir interessieren uns für den Einfluss der Umwelt auf Stress. Sowohl auf psychologischen als auch auf physiologischen Stress. Ist man gestresst, reagiert man einerseits auf psychologischer Ebene, aber auch auf physiologischer Ebene, man bekommt schwitzige Hände, die Stimme ändert sich, man hustet, die Körpertemperatur an bestimmten Körperstellen verändert sich. Es gibt viele physiologische Anzeichen, die mit Stress verbunden sind.
Wir wollen herausfinden, wie die verschiedenen Umwelten, denen wir im Alltag ausgesetzt sind, einen Einfluss darauf haben. Dabei wollen wollen wir sowohl herausfinden, welchen Einfluss Orte haben, an denen wir uns nur kurzfristig aufhalten, aber auch welchen Einfluss Orte, denen wir regelmäßig ausgesetzt sind, auf den augenblicklichen, den täglichen und den chronischen Stress haben.
Es ist eine Form der Wertschätzung von Ideen, denn wir haben ja noch keine Ergebnisse.
Existieren in diesem Bereich schon andere Studien?
Es gibt schon viele Forscher, die sich mit Stress beschäftigt haben. Wir wollen einen Stein zu diesem Gebäude beitragen.
Wir starten nicht bei Null, zumal es ein multidisziplinäres Gebiet ist, das viele Fachrichtungen betrifft: Geografen, Psychologen, Epidemiologen … Es gibt etwa die sogenannte „Stress restorative theory“, die sich mit dem Einfluss der Umgebung auf das Stressniveau beschäftigt und besagt, dass grüne Umgebungen wie Parks oder Wälder einen eher erholsamen Effekt hätten, während eine urbane, dichtere Umgebung Stress stärker fördere. 2050 wohnen einem Bericht der Vereinten Nationen zufolge voraussichtlich 68 Prozent der Weltbevölkerung in Städten. Es ist also wichtig, sich dafür zu interessieren, welche Einflüsse die urbane Umgebung im Detail hat, um gesunde Menschen zu haben und Städten zu ermöglichen, die Gesundheit zu fördern.
Welchen neuen Aspekt bringt ihre Forschung ein?
Wir interessieren uns nicht nur für den Wohnort der Menschen, sondern auch für die Orte, an denen sie sich täglich bewegen und denen sie im Laufe ihrer täglichen Aktivitäten ausgesetzt sind: Arbeit, Einkauf, die Kinder von der Schule abholen, zu Fuß, mit dem Auto, dem Fahrrad … Wir sammeln diese verschiedenen Orte. Das möglicherweise innovativste Element ist aber, dass wir uns auch der Zeitlichkeit des Aufenthalts widmen. Das ist bisher weniger erforscht. Ist es für das Stressniveau dasselbe, einer Umgebung fünf, zehn oder 15 Minuten
ausgesetzt zu sein? Macht es einen Unterschied für den Stresslevel, ob ich den ganzen Morgen in einer grünen Umgebung und den ganzen Nachmittag in der Stadt bin oder ob ich es umgekehrt mache, morgens Stadt, nachmittags grüne Umgebung? Wir wollen schauen, wie die Dauer, die Häufigkeit und die Sequenz der Umgebungen, denen wir ausgesetzt sind, den Stress beeinflussen.
Wie erheben Sie die dafür notwendigen Daten?
Es gibt zwei Teile. Der eine besteht aus Beobachtung, Feldforschung. Wir werden Menschen an bestimmten Orten beobachten und begleiten. Daneben gibt es einen Laborteil mit virtueller Realität. Durch den Einsatz einer immersiven virtuellen Realität mit Gehsimulatoren setzen wir die Teilnehmer verschiedenen mehr oder weniger stressigen Umgebungen aus. Und dann schauen, wir, wie das einen Einfluss auf das gemessene Stressniveau hat.
Warum nennt sich das Projekt „FragMent“?
Das liegt am Konzept der Fragmentation der Aktivitäten, das aus der „Time Geography“kommt und sich dafür interessiert, wie unsere Aktivitäten in Raum und Zeit strukturiert sind. Wir nehmen einige Aspekte dieses Konzepts und wenden sie auf den Effekt von Umwelteinflüssen auf den Stress an.
Was bedeutet die Förderung durch den ERC für Sie?
Es ist eine Form der Wertschätzung von Ideen, denn wir haben ja noch keine Ergebnisse. Da es ein sehr selektiver Prozess ist, ist es eine Ehre unter den Personen zu sein, die das Glück haben, ihre Ideen fünf Jahre lang entwickeln zu dürfen.
Im Projekt geht es auch um soziale Ungleichheiten verbunden mit Umwelt und Stress …
Wir schauen uns die Ungleichheiten betreffend zweier sozialer Gruppen an: sozioökonomische Ungleichheit und Geschlechterungleichheit. Wir wissen, dass sich die täglichen Aktivitäten von
Frauen und Männern unterscheiden und zu unterschiedlichen Stressfaktoren führen können. Sozioökonomisch benachteiligte Gruppen sind daneben oft eher stressigen Umgebungen ausgesetzt.
Sie führen die Studie in Luxemburg durch. Ist das Ergebnis auch auf andere Länder anwendbar?
Luxemburg ist, was Landschaft und Bewohner angeht, sehr divers. Wir arbeiten also mit einer Stichprobe, von der wir wollen, dass sie für Luxemburg repräsentativ ist. Es wird uns eine Idee davon geben, was man für andere – etwa europäische – Länder und Bevölkerungen erwarten kann. Nichtsdestotrotz werden die Ergebnisse nicht direkt übertragbar sein, denn die Umgebungen sind anders, der Rhythmus der Aktivitäten variiert … Auch wenn die Ergebnisse natürlich so generalisierbar wie möglich sein sollen, werden sie nicht eins zu eins auf andere Länder anwendbar sein, da bedarf es erneuter Studien. Die Ergebnisse werden dazu dienen, die Umweltdeterminanten von Stress in Luxemburg zu identifizieren und, so hoffen wir, Ansätze zu entwickeln, die der Förderung von Stressabbau im öffentlichen Raum dienen.
2050 wohnen voraussichtlich 68 Prozent der Weltbevölkerung in Städten.