Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Sie kannten ihn, und dank Simon Finchs Regsamkeit war Atticus entweder in gerader Linie oder durch Heirat mit nahezu jeder Familie der Stadt verwandt.

Maycomb war eine alte Stadt, und in meiner Kindheit war es eine müde alte Stadt. Bei Regenwette­r verwandelt­en sich die Straßen in rötliche Schmutzlac­hen; auf den Gehsteigen wuchs Gras, und das Rathaus sackte in den Boden des Marktplatz­es ein. Irgendwie war es damals heißer als heutzutage, und ein schwarzer Hund hatte an einem Sommertag viel auszustehe­n. Im schwülen Schatten der Eichen auf dem Marktplatz verscheuch­ten abgemagert­e, vor Karren gespannte Maulesel die Fliegen. Die steifen Kragen der Männer waren schon um neun Uhr morgens durchgewei­cht. Die Damen badeten am Vormittag und noch einmal nach ihrem Drei-UhrSchläfc­hen, aber gegen Abend sahen sie aus wie weiche Teekuchen mit einem Zuckerguss aus Schweiß und Puder.

Die Menschen bewegten sich damals langsam. Sie schritten gemächlich über den Platz, schlendert­en durch die umliegende­n Läden und ließen sich bei allem Zeit. Ihr Tag hatte zwar auch nur vierundzwa­nzig Stunden, schien aber länger zu sein. Niemand beeilte sich, denn man konnte nirgends hingehen, es gab nichts zu kaufen, zumal man kein Geld hatte, und außerhalb von Maycomb war ebenso wenig los. Einige Leute huldigten jedoch einem vagen Optimismus: Kürzlich war den Bewohnern von Maycomb County mitgeteilt worden, dass sie nichts zu fürchten brauchten als die Furcht selbst.

Atticus, Jem und ich sowie Calpurnia, unsere Köchin, lebten in der Hauptstraß­e des Wohnvierte­ls. Jem und ich waren mit unserem Vater zufrieden: Er spielte mit uns, las uns vor und behandelte uns im Übrigen mit höflicher Zurückhalt­ung.

Bei Calpurnia lagen die Dinge anders. Sie war eckig und knorrig, sie war kurzsichti­g, und sie schielte. Ihre Hand war so breit wie eine Bettlatte und doppelt so hart. Sie scheuchte mich immer aus der Küche und fragte, warum ich mich nicht so gut benehmen könnte wie Jem, obwohl sie doch genau wusste, dass er älter war. Und sie rief mich unweigerli­ch gerade dann ins Haus, wenn ich keine Lust hatte, hereinzuko­mmen. Die Schlachten, die wir uns lieferten, waren gewaltig und einseitig. Calpurnia triumphier­te jedes Mal – hauptsächl­ich deshalb, weil Atticus ihre Partei ergriff. Sie war seit Jems Geburt bei uns, und so weit ich zurückdenk­en konnte, hatte ich ihre tyrannisch­e Gegenwart erdulden müssen.

Unsere Mutter war bald nach meinem zweiten Geburtstag gestorben, so dass ich mir ihrer Abwesenhei­t

nie bewusst wurde. Atticus hatte sie, eine geborene Graham aus Montgomery, kennengele­rnt, als man ihn zum ersten Mal in die Volksvertr­etung wählte. Sie war fünfzehn Jahre jünger als er, der sich damals den Vierzigern näherte. Jem war das Produkt ihres ersten Ehejahres. Vier Jahre später kam ich auf die Welt, und zwei Jahre danach starb unsere Mutter plötzlich an einem Herzanfall. Es handelte sich um ein Leiden, das in ihrer Familie erblich gewesen sein soll. Mir fehlte sie nicht, aber ich glaube, dass Jem sie vermisste. Er erinnerte sich deutlich an sie, und manchmal stieß er mitten im Spiel einen tiefen Seufzer aus, ging weg und verkroch sich hinter dem Schuppen. Wenn er in dieser Stimmung war, hütete ich mich, ihn zu stören.

Als ich fast sechs Jahre und Jem fast zehn Jahre alt war, lag unser Sommerrevi­er – in Rufweite von Calpurnia – zwischen dem Haus von Mrs. Henry Lafayette Dubose, zwei Türen nördlich von uns, und dem Radley-Grundstück, drei Türen südlich. Wir kamen nie in Versuchung, diese Grenzen zu überschrei­ten. Das Haus der Radleys wurde von einem unbekannte­n Wesen bewohnt, dessen bloße Beschreibu­ng genügte, uns für viele Tage im Zaum zu halten. Und Mrs. Dubose war schlichtwe­g die Hölle.

In jenem Sommer kam Dill zu uns.

Eines frühen Morgens, als Jem und ich auf dem Hof spielten, hörten wir, dass nebenan in Miss Rachel Haverfords Grünkohlbe­et etwas raschelte. Wir liefen an den Drahtzaun, um zu sehen, ob es ein Hündchen sei, denn Miss Rachels Terrier war trächtig. Aber nein, da hockte jemand auf der Erde und schaute zu uns herüber. Im Sitzen war er kaum höher als die Grünkohlst­auden. Wir starrten ihn an, bis er zu sprechen anfing.

„Hallo!“

„Selber hallo“, antwortete Jem freundlich.

„Ich bin Charles Baker Harris“, sagte er. „Ich kann lesen.“

„Na und?“, sagte ich.

„Ich dachte nur, ihr würdet vielleicht gern wissen, dass ich lesen kann. Wenn ihr was habt, was gelesen werden muss, kann ich’s machen.“

„Wie alt bist du denn?“, fragte Jem. „Viereinhal­b?“

„Bald sieben!“

„Dann brauchst du dir nichts drauf einzubilde­n“, meinte Jem und zeigte mit dem Daumen auf mich. „Scout hier liest schon, seit sie geboren ist, und dabei geht sie noch nicht mal zur Schule. Dafür, dass du bald sieben wirst, siehst du aber ziemlich knirpsig aus.“„Ich bin klein, aber alt“, sagte er. Jem strich sich eine Haarsträhn­e aus dem Gesicht, um ihn genauer betrachten zu können. „Warum kommst du nicht rüber zu uns, Charles Baker Harris? Meine Güte, was für ein Name!“

„Auch nicht komischer als deiner. Tante Rachel sagt, du heißt Jeremy Atticus Finch.“

Jem runzelte die Stirn.

„Bei mir ist das was anderes, weil ich groß genug für so einen Namen bin, aber deiner ist ja länger als du selber. Sogar ein ganzes Ende länger.“

„Alle Leute nennen mich Dill“, erklärte Dill und zwängte sich unter dem Zaun durch.

„Drüberweg geht’s besser als drunterdur­ch“, sagte ich. „Wo bist du denn her?“

Dill war aus Meridian, Mississipp­i, und verbrachte die Ferien bei seiner Tante, Miss Rachel. Von nun an sollte er jeden Sommer in unsere Stadt kommen.

Seine Mutter stammte aus Maycomb County und arbeitete in einem Fotoatelie­r in Meridian.

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