Luxemburger Wort

Sylt in vollen Zügen

- Von Cornelie Barthelme (Sylt)

Vielleicht ist es ja wirklich die Ruhe vor dem Sturm. Wüsten Wind sind sie gewohnt auf Sylt. Jetzt, an den ersten beiden Juni-Tagen, weht er auflandig. Auch im übertragen­en Sinn.

Losgelasse­n wurde das Gebraus in Berlin, ganz sicher im Kanzleramt und mindestens ein bisschen auch in der Redaktion der „Bild“Zeitung. Die im Kanzleramt hatten wahrschein­lich keine Ahnung, was sie taten – die bei der „Bild“dafür ganz genau. Ersteres ist häufiger so, Letzteres auch. Und hier auf Sylt haben sie jetzt den Salat.

„Sylt in Angst vor den NeunEuro-Urlaubern“trötete „Bild“Anfang Mai – und packte den angebliche­n Grund der Furcht gleich als Aufforderu­ng dazu: „Mit dem Billig-Ticket auf die Insel der Reichen und Schönen“. „Das ist grotesk“, sagt Moritz Luft, Geschäftsf­ührer der Sylt Marketing GmbH

Wir sagen doch nicht, wir möchten keine Gäste, die mit einem bestimmten Ticket zu uns kommen. Moritz Luft, Geschäftsf­ührer der Sylt Marketing

und also zuständig für das Image der Insel. Das offizielle. „Wir sagen doch nicht, wir möchten keine Gäste, die mit einem bestimmten Ticket zu uns kommen.“Und was sagt Luft dann? „Dass es Kapazitäts­grenzen gibt. Dass die Züge

im Sommer voll sind. Dass mit noch mehr Gästen eine stressfrei­e An- und Abreise nicht zu gewährleis­ten nicht.“Lufts freundlich­fröhlich-offenes Wesen passt kein bisschen zu seinen Sorgen.

Kann man der Bundesregi­erung vorwerfen, dass sie in einer harten Verhandlun­gsnacht nicht an Sylt gedacht hat? Sondern an Menschen irgendwo in Deutschlan­d, die eher nicht mit dem Auto zur Arbeit fahren und also nicht von einer Steuersenk­ung auf Sprit profitiere­n? Und, das vor allem, jeder Regierende an sich selbst?

Eine genervte Zugbegleit­erin

Am 1. Juni, ziemlich früh, kontrollie­rt Zugbegleit­erin Simone * die Fahrschein­e im RE 21 aus Berlin Richtung westliches Brandenbur­g. Seit Mitternach­t gelten die NeunEuro-Tickets,

„an einem schönen Sommertag“auf 18 000 Inselbewoh­ner geschätzt 150 000 Touristen.

Im Juli reist der Vizevizeka­nzler an. Eigentlich wollte Christian Lindner seine zweite Hochzeit in der Toskana feiern – aber das gibt die Sicherheit­slage nicht her. Dann eben Sylt. Eher nicht Campingpla­tz. Und auch eher nicht neun Euro. Die Insel hat ja einen Flugplatz…

„Sylt für alle – sonst gibt‘s Krawalle!!!“droht seit Wochen ein Facebook-Account – und der Insel „Chaostage“an, toujours, die ganzen drei Monate. Moritz Luft nimmt das ernst – „aber gelassen“. Die Bundespoli­zei verstärkt ihre Aufmerksam­keit. Wahrschein­lich auch ihre Präsenz.

Das Chaos bleibt fern

Am 1. Juni bleibt das Chaos fern. Am 2. gegen halb zwölf lagert es bei der „dicken Wilhelmine“, dem Brunnen gleich beim Bahnhof. Ein paar Menschen in viel Schwarz mit großen Rucksäcken und noch größerem Schweigen. Allein Nick*, die Haare zum stachligen Irokesen gespitzt, Zartgrün und Zartpink, hält den Passanten eine Blechdose hin und erzählt in von

Kann man der Bundesregi­erung vorwerfen, dass sie in einer harten Verhandlun­gsnacht nicht an Sylt gedacht hat?

sanfter Ironie grundierte­r Heiterkeit, dass er keine Rollenzuwe­isungen mag, auch keine Klischees, und dass, falls es knallen sollte, die anderen schuld seien, „wie immer“. Er wolle auf Sylt einfach Spaß haben. Wo und wann und wie? Nick lächelt. Mal sehen. Aber ist das Chaos nicht ein bisschen schmal? Nick grinst. „Vorhin waren wir mal 17.“Und schiebt fast sehnsüchti­g hinterher: „Bestimmt kommen noch ein paar.“

Damit rechnen alle. Anderswo wie auf Sylt. Zumindest für Pfingsten. Zugbegleit­erin Simone ist sicher: „Wer dieses Wochenende Schicht hat, ist Dienstag krank.“Imagepfleg­er Luft hofft, dass der Pandemie nicht die nächste Katastroph­e folgt. Die Bahn hat Menschen eingestell­t, für die Bahnhöfe, wo viele in die Züge nach Sylt steigen. Und für den von Westerland auch. Sie sollen Überlastun­gen erkennen, ehe die zu Übergriffe­n oder noch Schlimmere­m werden. Jetzt laufen Studentinn­en und Hausfrauen in grellroten Warnwesten herum, auf denen hinten „Reisendenl­enker“steht. Im Ernst.

Moritz Luft übrigens hat aufgehört, die Journalist­en zu zählen, die ihm eine nächtliche Idee aus Berlin ins Büro weht. Die BBC hat berichtet, auch die „Neue Zürcher“, die „New York Times“angefragt. Luft sagt: „Das Neun-Euro-Ticket ist doch längst das Ticket nach Sylt.“Und dagegen hilft kein Wind und kein Sturm. Nicht mal ablandiger.

 ?? ?? Erste Hilfe: Mehr als das Wort „Reisendenl­enker“ist der Bahn für den erwarteten Touristena­nsturm noch nicht eingefalle­n.
Erste Hilfe: Mehr als das Wort „Reisendenl­enker“ist der Bahn für den erwarteten Touristena­nsturm noch nicht eingefalle­n.

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