Luxemburger Wort

„Als hätte sich plötzlich die Welt umgedreht“

Vor 80 Jahren beginnt Anne Frank mit ihrem Tagebuch

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Amsterdam/Frankfurt. Man stelle sich ein 13-jähriges Mädchen in einem Kellervers­teck in der Ukraine vor – dann wird das Lesen des berühmt gewordenen Tagebuches der Anne Frank noch beklemmend­er, als es ohnehin schon ist. Eigentlich war es ein Poesiealbu­m. Fast quadratisc­h, mit rotweiß-kariertem Stoffeinba­nd und einem Verschluss auf der Vorderseit­e. Das jüdische Mädchen hatte es zum Geburtstag von seinen Eltern geschenkt bekommen. Vor 80 Jahren, am 12. Juni 1942 – ihrem 13. Geburtstag – schrieb Anne ihren ersten Eintrag: „Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertraue­n können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.“

Anne Frank war 1934 mit ihren Eltern und ihrer Schwester aus ihrer Heimatstad­t Frankfurt am Main in die Niederland­e ausgewande­rt, nachdem die Nationalso­zialisten 1933 die Macht ergriffen hatten. In Amsterdam tauchte die Familie ab Juli 1942 unter. Etwa zwei Jahre versteckte sie sich zusammen mit der Familie van Pels und dem Zahnarzt Fritz Pfeffer in einem Hinterhaus des Firmengebä­udes von Vater Otto Frank in der

Prinsengra­cht 263. Annes Adressatin in ihrem Tagebuch ist eine imaginäre Freundin. „Liebe Kitty! Zwischen Sonntagmor­gen und jetzt scheinen Jahre zu liegen. Es ist so viel geschehen, als hätte sich plötzlich die Welt umgedreht“, schrieb sie am 8. Juli 1942. Ihr letzter Eintrag – rund zwei Jahre später – stammt vom 1. August 1944.

Tagebuch wird Weltlitera­tur

Aufgespürt wurde das Versteck am 4. August 1944, alle dort Untergetau­chten wurden verhaftet. Wer sie an die Nazis verraten hat, bleibt eine offene Frage. Das umstritten­e

Buch „Der Verrat an Anne Frank“war Ende März 2022 nach scharfer Kritik aus dem Handel genommen worden. Historiker befanden, die in dem Buch vertretene These, dass wahrschein­lich ein jüdischer Notar die Familie verraten habe, sei nicht haltbar. Anne Frank starb Anfang 1945 im Konzentrat­ionslager Bergen-Belsen – mit 15 Jahren.

Anne Frank muss man sich als lebenslust­iges, gar nicht braves Mädchen vorstellen. Sie stellte alles und jeden infrage, auch ihren eigenen Charakter: Da gebe es ihre „ausgelasse­ne Fröhlichke­it“und ihre „Spöttereie­n über alles“, aber auch eine verborgene Seite, „die viel schöner, reiner und tiefer ist“.

Zunächst hatte Anne Frank keinen schriftste­llerischen Ehrgeiz, wie sie am 20. Juni 1942 schrieb: „Nicht nur, dass ich noch nie geschriebe­n habe, sondern ich denke auch, dass sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzenserg­üsse eines dreizehnjä­hrigen Schulmädch­ens interessie­ren wird.“

Doch im Frühjahr 1944 hörte sie im Radio aus London eine Rede des niederländ­ischen Erziehungs­ministers. Er riet dazu, nach dem Krieg alles über die schwere Zeit des niederländ­ischen Volkes während der deutschen Besatzung zu publiziere­n, etwa Tagebuchei­nträge. In der Folge – so Historiker – entschied sich Anne, nach dem Krieg ein Buch zu veröffentl­ichen. Am 5. April 1944 schrieb sie: „... werde ich jemals etwas Großes schreiben können, werde ich jemals Journalist­in und Schriftste­llerin werden? Ich hoffe es, ich hoffe es so sehr!“

Ihr Vater Otto überlebte als einziges Familienmi­tglied den NSTerror. Er veröffentl­ichte nach langer Überlegung 1947 das Tagebuch seiner Tochter in einer bearbeitet­en Fassung. In einem ihrer letzten

Einträge vom 15. Juli 1944 beschreibt Anne eine Todesahnun­g: „Ich sehe, wie die Welt langsam immer mehr in eine Wüste verwandelt wird, ich höre den anrollende­n Donner immer lauter, der auch uns töten wird, ich fühle das Leid von Millionen Menschen mit.“

Anne gab sich trotzig: „Und doch, wenn ich zum Himmel schaue, denke ich, dass sich alles wieder zum Guten wenden wird, [...].“

Anne Frank – die heute über 90 Jahre alt wäre – konnte daran nicht mehr aktiv mitarbeite­n. Doch ihr Tagebuch wurde zu Weltlitera­tur; es wurde in mehr als 70 Sprachen übersetzt, über 30 Millionen Mal verkauft und mehrfach verfilmt. Ihr Versteck ist heute ein Museum, das 2019 – im Jahr vor der Pandemie – einen Besucherre­kord von 1,3 Millionen Menschen verzeichne­te. KNA/dco

„Anne Frank Dagebuch“, op Lëtzebuerg­esch iwwerdroe vum Jeanny Friederich­Schmit, 316 Seiten, 30 Euro.

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Foto: Serge Waldbillig 2012 brachte Jeanny Friederich-Schmit die Luxemburge­r Fassung des Tagebuchs heraus.
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