Streit um ukrainische Getreideexporte
Kiew fordert den Status als EU-Beitrittskandidat beim anstehenden Gipfel in Brüssel
Kiew/Ankara. Moskau wies im Streit um die Blockade von ukrainischem Getreide in Häfen am Schwarzen Meer jegliche Schuld von sich. Außenminister Sergej Lawrow machte bei einem Besuch in der Türkei gestern die Ukraine selbst dafür verantwortlich. Die Ukraine weigere sich bislang, ihre Häfen zu entminen oder anderweitig Durchfahrten von Frachtschiffen zu gewährleisten, sagte Lawrow nach einem Treffen mit dem türkischen Außenminister Mevlüt Cavusoglu in Ankara. Konkrete Ergebnisse wie die Einrichtung eines Sicherheitskorridors brachte das Treffen nicht.
Wegen der Blockade von Schwarzmeer-Häfen durch Russland kann die Ukraine nach eigenen Angaben mehr als 23 Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten nicht exportieren, wie Premier Denys Schmyhal gestern auf seinem Telegram-Kanal mitteilte. Trotz des seit mehr als drei Monaten dauernden russischen Angriffskriegs seien aber 75 Prozent der Vorjahresflächen bestellt worden. Das Landwirtschaftsministerium arbeite nun an der Einrichtung mobiler Silos, um die Lagerkapazitäten um zehn bis 15 Millionen Tonnen zu erhöhen.
Faktisch blockiert die russische Marine seit Beginn des Angriffskriegs auf das Nachbarland vor mehr als drei Monaten die ukrainischen Schwarzmeer-Häfen. Kiew traut den Moskauer Zusagen einer sicheren Passage nicht. Lawrow spielte die weltweite Sorge vor Hungerkrisen herunter. Das Problem beim Export von ukrainischem Getreide werde vom Westen als „universelle Katastrophe“eingestuft, obwohl der ukrainische Anteil an der weltweiten Produktion von Weizen und anderen Getreidearten weniger als ein Prozent ausmache.
Hoffnung auf Ansporn
Der ukrainische Parlamentspräsident Ruslan Stefantschuk warb bei einem Besuch im Straßburger Europaparlament dafür, seiner Heimat den Status als EU-Beitrittskandidat zu verleihen. Er könne den Abgeordneten versichern, dass diese Botschaft Ansporn für sein Land wäre, schnell weitere Reformen
voranzutreiben, sagte Stefantschuk der Parlamentsübersetzung zufolge. Es sei wichtig, dass die Ukraine diesen Ansporn von dem EU-Gipfel am 23. und 24. Juni erhalte.
Stefantschuk wurde gestern mit langem Applaus von den Abgeordneten in Straßburg empfangen. Kiew hatte kurz nach Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine den Beitritt zur EU beantragt. Die EU-Kommission will noch vor dem EU-Gipfel ihre Empfehlung darüber abgeben, ob dem Land der
Kandidatenstatus gewährt werden sollte. Die EU-Staaten müssten dann einstimmig über das weitere Vorgehen entscheiden.
Die Unterstützung des Europaparlaments hat die Ukraine sicher. „Wir wissen, wie wichtig es ist, ein klares Signal zu setzen, dass die Ukraine zu unserer europäischen Familie gehört“, sagte EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola.
Im Osten der Ukraine halten die schweren Kämpfe um die strategisch wichtige Stadt Sjewjerodonezk
unterdessen unvermindert an. Die ukrainische Seite berichtete gestern, ihre Stellungen seien von russischen Truppen rund um die Uhr unter Beschuss. Der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, sagte im Fernsehen: „Mörser, Artillerie, Panzer, Luftangriffe, alles fliegt gerade dorthin.“Zugleich versicherte er: „Niemand wird etwas aufgeben – selbst wenn unsere Soldaten gezwungen sind, sich auf besser befestigte Positionen zurückzuziehen.“
Bahntrasse nicht benutzbar
Wegen der schweren Angriffe werde die Bahntrasse zwischen Bachmut und Lyssytschansk von der Ukraine nicht mehr benutzt, sagte der Gouverneur. Der Nachschub für die Nachbarstädte Lyssytschansk und Sjewjerodonezk werde nun auf anderen Wegen dorthin gebracht. Dem ukrainischen Generalstab zufolge gab es verstärkte Luftangriffe in Richtung Bachmut im Gebiet Donezk und um die ukrainische Gruppierung bei Solote im Gebiet Luhansk. Zum Einsatz kamen demnach auch russische Kampfhubschrauber des Typs Ka-52.
Von russischer Seite hieß es, die ukrainischen Streitkräfte verzeichneten hohe Verluste bei den Kämpfen um die Region Donbass im Osten des Landes. Allein bei Gefechten um die Stadt Swjatohirsk habe die Ukraine innerhalb von drei Tagen mehr als 300 Kämpfer verloren, sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, gestern in Moskau. Zudem seien 15 Kampffahrzeuge und 36 Waffensysteme zerstört worden. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen. dpa