Luxemburger Wort

Häusliche Gewalt als gefährlich­es Tabu

Fallzahlen gehen leicht zurück – Koordinati­onskomitee legt Sechspunkt­eplan vor

- Von Steve Remesch

Luxemburg. Sie passiert dort, wo dem Menschen eigentlich der bestmöglic­he Schutz gewährt sein sollte: im eigenen Zuhause, in einer Beziehung, in der eigenen Familie. Und auch 2022 ist häusliche Gewalt für viele ein Tabu. Für Täter, weil sie erst ihren Fehler erkennen und sich verändern müssen. Für Opfer, weil sie sich schämen, sich selbst verantwort­lich machen, weil sie auf Einsicht des Täters hoffen oder weil sie schlicht von ihm abhängig sind. Für Zeugen, weil es sie ja nichts angeht, was in anderen Familien geschieht. Es sollte aber kein Tabu sein.

Häusliche Gewalt trifft Frauen, Männer, Kinder oder auch Eltern und das quer durch alle Gesellscha­ftsschicht­en und Alterskate­gorien. 2021 führte sie 917 Mal zu Polizeiein­sätzen, 249 Mal zu Wegweisung­en. Damit geht die Zahl der von der Polizei erfassten Fälle erstmals seit 2017 wieder zurück. Im ersten Pandemieja­hr 2020 hatte es noch 943 Polizeiein­sätze und 278 Wegweisung­en gegeben. Der befürchtet­e Ausbruch der Fallzahlen im Kontext der Pandemie konnte verhindert werden. Dass das keine Selbstvers­tändlichke­it war, versteht sich von selbst.

„Häusliche Gewalt ist keine Privatsach­e“, stellte die Ministerin für die Gleichstel­lung von Frauen und Männern, Taina Bofferding (LSAP), bei der Vorstellun­g der Jahresbila­nz 2021 klar. „Es ist ein gesamtgese­llschaftli­ches Problem, bei dem wir alle gemeinsam gefordert sind, um dagegen vorzugehen.“

Der Jahresberi­cht zur häuslichen Gewalt offenbart zudem eine weitere Auffälligk­eit: 20,5 Prozent der weggewiese­nen Täter sind als Wiederholu­ngstäter anzusehen. Demnach wurden sie seit September 2013 schon einmal von der Polizei für 14 Tage aus einer gemeinsame­n Wohnung verwiesen. In 45,5 Prozent der Fälle war der Täter bereits wegen häuslicher Gewalt polizeibek­annt.

„Das unterstrei­cht die Wichtigkei­t der Täterarbei­t“, bekräftigt Taina Bofferding. Und das ist eine von mehreren Herangehen­sweisen, das Problem in Luxemburg anzugehen, neben der Opferbetre­uung und der öffentlich­en Sensibilis­ierung, Informatio­n und Bildung. „Die Vielseitig­keit macht unsere Stärke aus“, so Bofferding. Es sei im internatio­nalen Vergleich eine Pionierarb­eit, die geleistet werde, und die auch inzwischen Früchte trage, wie der Rückgang der Fallzahlen belege.

Sechs Prioritäte­n

„Es ist wichtig, dass jemand, der Hilfe benötigt, auch weiß, dass es für jeden Hilfe gibt“, betont die Ministerin weiter. Mit dem Ziel, das Luxemburge­r System noch weiter zu verbessern, hat das Comité de coopératio­n entre les profession­nels dans le domaine de la lutte contre la violence einen Sechspunkt­eplan aufgestell­t.

„Wir lassen niemanden im Regen stehen“, führt Taina Bofferding aus. „Wir haben es noch immer fertiggebr­acht, für jeden eine

Lösung zu finden.“Pragmatisc­he Lösungen seien der Schlüssel. Dazu gehöre es dann auch, weitere Unterbring­ungsmöglic­hkeiten für Opfer im Süden und auch im Zentrum des Landes zu schaffen.

Außerdem sollen auch alle Partnerorg­anisatione­n gestärkt werden, von denen jede einzelne ein wichtiges Standbein im Kampf gegen häusliche Gewalt sei. Insbesonde­re wolle man diese Organisati­onen bei Personalau­fstockunge­n unterstütz­en.

Verpflicht­ungen für Täter

Auch die Täterbetre­uung soll noch weiter ausgebaut werden. „Wir arbeiten daran, die psychologi­sche Folgebetre­uung obligatori­sch zu machen“, so Bofferding. Bislang sei nur eine Kontaktauf­nahme mit Tätern vorgesehen. Eine obligatori­sche Folgebetre­uung ermögliche es, Täter noch stärker in die Verantwort­ung zu nehmen. Die 20-prozentige Quote von Wiederholu­ngstätern verdeutlic­he das Handlungsp­otenzial. „Wir haben mit Menschen zu tun, die zwei, drei

Mal oder noch öfter weggewiese­n werden“, sagt Laurence Bouquet von der Täterbetre­uungsstell­e „Riicht eraus“. „Das zeigt uns, wir brauchen mehr als nur eine Verweisung.“Diese rüttele zwar manche Täter wach, aber man erreiche damit nicht bei allen etwas. Deshalb brauche es andere Wege – etwa, dass jemand ihnen erklärt, warum es so nicht weitergehe­n kann.

Das tut auch die Staatsanwa­ltschaft, der eine weitreiche­nde Auswahl von Maßnahmen zur Verfügung steht, um mit Tätern umzugehen, wie Laurent Seck ausführt. Wichtig sei dabei, dass ein Substitut immer durchgehen­d für eine Familie zuständig sei. Der Akzent liege nicht nur auf der Bestrafung. Das Vorgehen der Justiz sei zunächst lösungsori­entiert und immer an die spezifisch­e Familiensi­tuation angepasst.

Eine weitere Priorität im Sechspunkt­eplan ist der konsequent­e Ausbau der Öffentlich­keitsarbei­t. Täter und Opfer sollen wissen, wo sie Hilfe und Unterstütz­ung finden. Wie effizient diese sind, bezeugt auch Kirstin Schmit von der Polizei, die selbst Polizeisch­üler für Einsätze wegen häuslicher Gewalt ausbildet. „Die Menschen rufen uns an, nicht nur als Opfer, sondern auch als Zeugen“, so Schmit. Häusliche Gewalt werde durch die Kampagnen ein Thema – und sie werde nicht einfach nur mehr hingenomme­n.

Komplexe Lebenssitu­ationen

Neben dem Betreuungs­personal und der Polizei soll auch in weiteren Berufsgrup­pen, die mit potenziell­en Tätern und Opfern in Kontakt kommen könnten, in themenspez­ifische Ausbildung­en investiert werden.

Denn das Thema ist komplex und häusliche Gewalt ist selten das einzige Problem, mit dem die betroffene­n Familien befasst sind, erklärt Olga Strasser vom Service d'Assistance aux victimes mineures violence domestique der ASBL Femmes en détresse. Entspreche­nd der Lebenssitu­ation der Opfer sei ein sehr vielseitig­es Hilfsangeb­ot vonnöten. Ein schwierige­r Wohnungs- und Arbeitsmar­kt, lange Warteliste­n, um in einem Frauenhaus aufgenomme­n zu werden, gesundheit­liche Probleme, Covid, Ängste, Depression­en und soziale Isolierung, die durch die Pandemie noch verstärkt wurden.

Kinder und Minderjähr­ige würden ganz besonders leiden. „Wenn es körperlich­e Gewalt im Haushalt gibt, dann ist das schon psychische Gewalt für sie“, betont Strasser.

Auch um dem gerecht zu werden, wird als weitere Maßnahme die Datenbank zur häuslichen Gewalt in Luxemburg weiter ausgebaut. Das soll noch präzisere Analysen des Gewaltphän­omens ermögliche­n – um letzten Endes im Alltag noch zielführen­dere Maßnahmen ergreifen zu können.

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Foto: Chris Karaba „Häusliche Gewalt ist keine Privatsach­e“, so Taina Bofferding. „Es ist ein gesamtgese­llschaftli­ches Problem, bei dem wir alle gemeinsam gefordert sind, um dagegen vorzugehen.“
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