Häusliche Gewalt als gefährliches Tabu
Fallzahlen gehen leicht zurück – Koordinationskomitee legt Sechspunkteplan vor
Luxemburg. Sie passiert dort, wo dem Menschen eigentlich der bestmögliche Schutz gewährt sein sollte: im eigenen Zuhause, in einer Beziehung, in der eigenen Familie. Und auch 2022 ist häusliche Gewalt für viele ein Tabu. Für Täter, weil sie erst ihren Fehler erkennen und sich verändern müssen. Für Opfer, weil sie sich schämen, sich selbst verantwortlich machen, weil sie auf Einsicht des Täters hoffen oder weil sie schlicht von ihm abhängig sind. Für Zeugen, weil es sie ja nichts angeht, was in anderen Familien geschieht. Es sollte aber kein Tabu sein.
Häusliche Gewalt trifft Frauen, Männer, Kinder oder auch Eltern und das quer durch alle Gesellschaftsschichten und Alterskategorien. 2021 führte sie 917 Mal zu Polizeieinsätzen, 249 Mal zu Wegweisungen. Damit geht die Zahl der von der Polizei erfassten Fälle erstmals seit 2017 wieder zurück. Im ersten Pandemiejahr 2020 hatte es noch 943 Polizeieinsätze und 278 Wegweisungen gegeben. Der befürchtete Ausbruch der Fallzahlen im Kontext der Pandemie konnte verhindert werden. Dass das keine Selbstverständlichkeit war, versteht sich von selbst.
„Häusliche Gewalt ist keine Privatsache“, stellte die Ministerin für die Gleichstellung von Frauen und Männern, Taina Bofferding (LSAP), bei der Vorstellung der Jahresbilanz 2021 klar. „Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, bei dem wir alle gemeinsam gefordert sind, um dagegen vorzugehen.“
Der Jahresbericht zur häuslichen Gewalt offenbart zudem eine weitere Auffälligkeit: 20,5 Prozent der weggewiesenen Täter sind als Wiederholungstäter anzusehen. Demnach wurden sie seit September 2013 schon einmal von der Polizei für 14 Tage aus einer gemeinsamen Wohnung verwiesen. In 45,5 Prozent der Fälle war der Täter bereits wegen häuslicher Gewalt polizeibekannt.
„Das unterstreicht die Wichtigkeit der Täterarbeit“, bekräftigt Taina Bofferding. Und das ist eine von mehreren Herangehensweisen, das Problem in Luxemburg anzugehen, neben der Opferbetreuung und der öffentlichen Sensibilisierung, Information und Bildung. „Die Vielseitigkeit macht unsere Stärke aus“, so Bofferding. Es sei im internationalen Vergleich eine Pionierarbeit, die geleistet werde, und die auch inzwischen Früchte trage, wie der Rückgang der Fallzahlen belege.
Sechs Prioritäten
„Es ist wichtig, dass jemand, der Hilfe benötigt, auch weiß, dass es für jeden Hilfe gibt“, betont die Ministerin weiter. Mit dem Ziel, das Luxemburger System noch weiter zu verbessern, hat das Comité de coopération entre les professionnels dans le domaine de la lutte contre la violence einen Sechspunkteplan aufgestellt.
„Wir lassen niemanden im Regen stehen“, führt Taina Bofferding aus. „Wir haben es noch immer fertiggebracht, für jeden eine
Lösung zu finden.“Pragmatische Lösungen seien der Schlüssel. Dazu gehöre es dann auch, weitere Unterbringungsmöglichkeiten für Opfer im Süden und auch im Zentrum des Landes zu schaffen.
Außerdem sollen auch alle Partnerorganisationen gestärkt werden, von denen jede einzelne ein wichtiges Standbein im Kampf gegen häusliche Gewalt sei. Insbesondere wolle man diese Organisationen bei Personalaufstockungen unterstützen.
Verpflichtungen für Täter
Auch die Täterbetreuung soll noch weiter ausgebaut werden. „Wir arbeiten daran, die psychologische Folgebetreuung obligatorisch zu machen“, so Bofferding. Bislang sei nur eine Kontaktaufnahme mit Tätern vorgesehen. Eine obligatorische Folgebetreuung ermögliche es, Täter noch stärker in die Verantwortung zu nehmen. Die 20-prozentige Quote von Wiederholungstätern verdeutliche das Handlungspotenzial. „Wir haben mit Menschen zu tun, die zwei, drei
Mal oder noch öfter weggewiesen werden“, sagt Laurence Bouquet von der Täterbetreuungsstelle „Riicht eraus“. „Das zeigt uns, wir brauchen mehr als nur eine Verweisung.“Diese rüttele zwar manche Täter wach, aber man erreiche damit nicht bei allen etwas. Deshalb brauche es andere Wege – etwa, dass jemand ihnen erklärt, warum es so nicht weitergehen kann.
Das tut auch die Staatsanwaltschaft, der eine weitreichende Auswahl von Maßnahmen zur Verfügung steht, um mit Tätern umzugehen, wie Laurent Seck ausführt. Wichtig sei dabei, dass ein Substitut immer durchgehend für eine Familie zuständig sei. Der Akzent liege nicht nur auf der Bestrafung. Das Vorgehen der Justiz sei zunächst lösungsorientiert und immer an die spezifische Familiensituation angepasst.
Eine weitere Priorität im Sechspunkteplan ist der konsequente Ausbau der Öffentlichkeitsarbeit. Täter und Opfer sollen wissen, wo sie Hilfe und Unterstützung finden. Wie effizient diese sind, bezeugt auch Kirstin Schmit von der Polizei, die selbst Polizeischüler für Einsätze wegen häuslicher Gewalt ausbildet. „Die Menschen rufen uns an, nicht nur als Opfer, sondern auch als Zeugen“, so Schmit. Häusliche Gewalt werde durch die Kampagnen ein Thema – und sie werde nicht einfach nur mehr hingenommen.
Komplexe Lebenssituationen
Neben dem Betreuungspersonal und der Polizei soll auch in weiteren Berufsgruppen, die mit potenziellen Tätern und Opfern in Kontakt kommen könnten, in themenspezifische Ausbildungen investiert werden.
Denn das Thema ist komplex und häusliche Gewalt ist selten das einzige Problem, mit dem die betroffenen Familien befasst sind, erklärt Olga Strasser vom Service d'Assistance aux victimes mineures violence domestique der ASBL Femmes en détresse. Entsprechend der Lebenssituation der Opfer sei ein sehr vielseitiges Hilfsangebot vonnöten. Ein schwieriger Wohnungs- und Arbeitsmarkt, lange Wartelisten, um in einem Frauenhaus aufgenommen zu werden, gesundheitliche Probleme, Covid, Ängste, Depressionen und soziale Isolierung, die durch die Pandemie noch verstärkt wurden.
Kinder und Minderjährige würden ganz besonders leiden. „Wenn es körperliche Gewalt im Haushalt gibt, dann ist das schon psychische Gewalt für sie“, betont Strasser.
Auch um dem gerecht zu werden, wird als weitere Maßnahme die Datenbank zur häuslichen Gewalt in Luxemburg weiter ausgebaut. Das soll noch präzisere Analysen des Gewaltphänomens ermöglichen – um letzten Endes im Alltag noch zielführendere Maßnahmen ergreifen zu können.